Davon redete der Pfarrer nicht in seiner Predigt. Es war auch keine rechte Trauer vorhanden bei dieser Trauerfeier. Die zu Beerdigende war alt gewesen, was wollte man noch erwarten. Der Pfarrer sprach vom Krieg, den die Alten noch erleben durften, dass er ihnen einen ganz anderen Blick auf das Wesentliche geschenkt habe, für den der heutige Christ auch dankbar sein könne, den ihnen aber das Wort Gottes auch schenken könne, für den es demnach auch keinen Krieg mehr brauche. Der Krieg tobe trotzdem, er habe das Land nicht verlassen. Die arme Frau Zulauf sei sein Opfer geworden. Man müsse weitere Opfer verhindern, aber dazu fehle der Bevölkerung der Mut und auch den Behörden. Der Pfarrer ist ein Nazi, dachte sich Birne. Die Familie Kemal war nicht da, wären sie da gewesen, hätte er mit ihr den Pfarrer als Nazi beschimpft, das hätte er noch für sie gemacht.
Die Freundin vom Enkel schaute sich um, weil die Predigt sie langweilte und nicht aufwühlte wie Birne. Sie schaute sich die Bilder in der Kirche an und die anderen Leute. Sie streifte Birne kurz und blickte dann erschrocken zu ihm zurück. Große Augen. Sie konnte es nicht fassen, diese Dreistigkeit. Diese laschen Behörden. Gleich würde sie schreien. Sie schrie nicht. Sie drehte sich wieder um.
Birne verschwand.
Was hatte er jetzt davon gehabt? Halber Gottesdienst ist geteilter Gottesdienst. Seine Idee war blöd gewesen. Er hatte sich wichtiger gemacht, als er war und sein wollte. Er rannte heim, zog sich seinen Jogginganzug an und warf sich in sein Bett.
Birne nickte ein; er wusste nicht, ob er lang oder kurz geschlafen hatte, als ihn das Klingeln seiner Tür weckte. Er überlegte, ob er es ignorieren sollte, denn er erwartete niemanden und schon gar nichts Gutes. Im dümmsten Fall waren es Kemals, die ihren Schlüssel wiederhaben wollten. Dann sollten sie ihn in Gottes Namen wiederhaben. Birne schlüpfte schließlich in seine Pantoffeln und schlurfte zur Tür.
Seine Gegensprechanlage war kaputt, da musste er sich mal beschweren. Er drückte auf den Türöffner unten, wartete und öffnete die Tür, um schon auf der Treppe erkennen zu können, ob er diesen Besuch gebrauchen konnte. Doch dieser Besuch kam nicht von draußen, sondern stand schon vor ihm, vor seiner Tür und überraschte ihn doch sehr: Simone.
»Hi«, sagte sie und beugte sich ganz nah zu seinem Gesicht – fast hätte er sie küssen können.
»Hi«, sagte er knapp und verlegen.
»Ist alles in Ordnung mit deinem Gesicht? Er war nicht gerade sanft mit dir. Tut mir leid.«
Während sie das sagte, kam Birne ein wenig runter von seiner Überraschung und verliebte sich dafür ein bisschen mehr in die Simone vor ihm. Die war in Ordnung, auch wenn es sein Gesicht nicht war.
»Passt schon, ich bin nicht aus Schokolade und es war auch meine Schuld.«
»Man soll nicht immer so kritisch mit sich selbst sein«, sagte sie schnippisch mit einer demonstrativen ostdeutschen Unbekümmertheit.
Birne lachte: »Da hast du recht.« Hatte sie auch, fand er.
»Bernd ist immer so grob und hinterher tut es ihm leid und er kommt drei Tage nicht aus dem Haus. Bernd ist der, der dich – Entschuldigung, Sie – so vermöbelt hat.«
»Du passt schon. Ich bin der Birne.«
Jetzt lachte sie: »Ich weiß, ich bin Simone.«
»Das weiß ich auch.«
»Ehrlich? Woher?«
»Er hat mit dir geredet und mich verhauen.«
»Na, dir geht es ja wieder ganz gut. Das seh ich schon.«
»Willst du einen Kaffee?«
»Einen Kaffee?«, fragte sie verwundert. »Wieso nicht?«
»Komm rein.«
Zögerlich kam sie rein. Traute sie Birne nicht? »Eigentlich habe ich Bernd gesagt, dass ich bald wieder da bin.«
»Ein Kaffee.«
»Ja, ich wollte in der Wohnung ein bisschen aufräumen und dann zurück. Du musst wissen, Bernd ist furchtbar eifersüchtig.«
»Und nicht zimperlich.«
»Wahrlich nicht. Ich kann dir sagen, manchmal ist das nicht leicht mit dem. Aber was erzähl ich dir das – das ist bestimmt unendlich langweilig für dich.«
»Nein, nein, ich will auch hin und wieder reden.«
Sie waren in seiner Küche angekommen. Birne machte sich an einer simplen Espressomaschine zu schaffen, die man auf die Herdplatte stellen musste. Sie gab gerade genug für einen – mehr hatte er lange nicht gebraucht. Simone saß an seinem Tisch, hatte den Ellbogen auf einen Prospekt seiner Zeitung gestützt und beobachtete ihn genau.
»Dann schieß los.«
»Hin und wieder, im Moment bin ich ganz zufrieden damit, dir und mir einen Kaffee zu kochen.«
»Hast nicht oft Gäste, nicht?«
»Nein, wenn ich ehrlich bin.«
»Ich habe dich vorhin gesehen«, sagte Simone.
Birne schwieg.
Sie fuhr fort: »War es dir langweilig? Warst du allein?«
»Hat Bernd mich auch gesehen?«
»Hast du Angst, dass er die Polizei ruft? Das kann ich auch erledigen. Wieso rennst du uns hinterher?«
»Ich kannte die Frau Zulauf, ich bin ihr Nachbar gewesen. Es wurde noch nie eine Nachbarin von mir ermordet, so etwas bringt einen ein bisschen durcheinander, da macht man Dinge, die man normalerweise nicht machen würde. Kann sein, dass es am Haus liegt, an der Luft hier drin. Ich wollte gar nichts auf dieser Beerdigung, ich bin wieder gegangen, weil ich es doof fand, dort zu sein, sobald ich dort war.«
»Mir gibt das auch nichts, dieses Gebete, das muss hier halt so sein, sonst ist der Tote nicht abgehakt.«
»Besser, dass sie tot bleibt.«
»Wie meinst du das?«
»Hab ich mir in der Kirche gedacht. Wär blöd, wenn sie plötzlich wieder da wäre.«
»So als Zombie oder Vampir?«
»Genau. Lieber als Vampir, wenn es schon sein müsste.«
»Wieso?«
»Zombies haben kein Hirn. Allerdings merken sie davon auch nichts. Vampire leben ewig, ich kenne Menschen, die sagen, deswegen wollten sie kein Vampir sein. Denen ist jetzt schon langweilig, die wissen schon mit den 80 Jahren, die sie hier haben, nichts anzufangen, für die ist die Ewigkeit Horror.«
»Man teilt sich dann die Zeit anders ein.«
»Richtig. Ich wär gern Vampir, wenn ein Vampir käm, würd ich ihn reinlassen, Vampire muss man reinlassen, sonst können sie einem nichts tun.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Da komm ich nicht drauf, das stimmt ganz einfach.«
»Du hast mich eben reingelassen.«
»Jetzt bin ich aufgeregt. Ich hab schon mal eine Frau reingelassen, die hat sogar behauptet, dass sie mich beißen wird, getan hat sie es nicht.«
»Eigentlich wollte ich gar nicht rein. Ich wollte dich nur um einen Gefallen bitten.«
»Einen Gefallen?«
Er schenkte ihr ein und setzte sich eine zweite Ladung auf.
»Hast du Milch?«, erkundigte sie sich.
»Klar. Moment.« Er öffnete den Kühlschrank und stellte ihr den Tetrapak hin.
»Du wohnst noch nicht lange hier?«
»Eineinhalb Wochen.«
»Echt? Dafür sieht’s hier aber gemütlich aus. Richtig wohnlich.«
»Na ja, man tut, was man kann. Nein, im Ernst, ich habe die Wohnung von einer gemietet, die plötzlich ins Ausland musste und mir ihre Einrichtung da ließ. Ich soll aufpassen, und wenn sie an Weihnachten oder im August mal wieder hier reinschaut, dann entscheidet sie, was ich behalten kann und was wegkommt.«
»Hab mich schon gewundert: Poster von Surfern und Leuchttürmen, Mondkalender. Für schwul hätte ich dich eigentlich nicht gehalten.«
»Nein, obwohl der Kalender von mir ist. Ich kenn die, die den gemacht hat.«
»Deine Freundin?«
»Nein, ich bin allein zurzeit.«
»Soll ich dir das glauben oder sagst du das nur, weil du mit einer fremden Frau in deiner Wohnung bist?«
»Beweisen kann ich nichts. Obwohl ich mir auf jeden Fall überlegen würde zu lügen.«
»So?« Birnes Kaffee war nun auch in der Tasse, er saß mit ihr am gleichen Tisch und war ihr ziemlich nahe dabei.
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