NATASCHA KNECHT
PIONIER UND
GENTLEMAN DER
ALPEN
DAS LEBEN DER BERGFÜHRERLEGENDE
MELCHIOR ANDEREGG (1828–1914)
UND DIE BLÜTEZEIT DER ERSTBESTEIGUNGEN
IN DER SCHWEIZ
Inhalt
Wer ist Melchior Anderegg?
1855 im Grimsel-Hospiz: Die Karriere beginnt
Ambitionierte Gletschertour über den Strahleggpass – Mit Flöhen im Heubett – Sonnenbrand der Engländer – Hinchliff schiesst «wie ein Blitz» in eine Spalte – Stärker als der störrische Widder – Melchiors Kindheit in Zaun bei Meiringen – Wechsel in den «Schwarenbach» auf der Gemmi – Oberländer «Kriegsruf» auf dem Altels
Der steinige Weg zum Alpinismus
Die Engländer kommen – Kriegsrhetorik in den Bergen – Rückblick: Die Alpen sind schrecklich, Bergbesteigungen verboten und «keineswegs lukrativ» – Mit Pantoffeln auf den Mont Blanc – «Wo ist jetzt die Jungfrau?»
Von Touristen und Alpinisten
Die Industrialisierung ruiniert in Grossbritannien die Landschaft und das Essen – Die «gewespeten Taillen» in Interlaken – Alpinist, der neue elitäre gesellschaftliche Stand – «Herr, Sie klettern so gut wie eine Gemse!» – Die erste kommerzielle Vermarktung einer Bergtour – Flitterwochen mit dem Bergführer statt mit der Ehefrau
Erstbesteigung des Zinalrothorns mit Leslie Stephen
Die Hochalpen als neue Kathedrale – Ein endloses Füllhorn der Ärgernisse – Vor Kälte spielen die Zähne «Schlagzeug zu Negerweisen» – Rittlings über die «Rasiermesserbrücke» – Melchiors Freudensprünge an den unmöglichsten Stellen – Stephens Sturz in eine Gletscherkluft
Ein neuer Beruf
Schmiergeld, Verständigungsschwierigkeiten, Lügen – Bergführer werden patentiert – Nicht ohne meinen Camerado – «Lotzer» sorgen für Beschwerden – Das komplexe Verhältnis zwischen «Herr» und Führer – Schweizer Bergführer erlangen Weltruf
Melchior heiratet, dann taucht die reiche Lucy Walker auf
Melchior verliebt sich in Margaretha, Lucy verguckt sich in Melchior – Das «gemeinsame Übernachten des ledigen Jungvolkes» – Melchiors erste Erstbesteigung – Sein erster Sohn wird geboren
Unfall und Rettungsaktion am Col de Miage
Ein 18-jähriger Engländer stürzt 530 Meter ab – Sein ganzer Körper ist von den Schürfungen eine einzige Fleischwunde – Kräftezehrende pedestrische Rettung durch Melchior und die weiteren Bergführer – Rettung der Ehre englischer Alpinisten in der Brenvaflanke am Mont Blanc
Ausrüstung, Technik und Alkohol
Barriere Ambulante – «Der Herr ist im Schrund!» – Das Seil, ein Zeichen der Ängstlichkeit – Beliebte «Gepäckträger» – Biwakieren im Sturm – Gute Gründe, Steigeisen abzulegen – Wein gehört auf Bergfahrten zur Kultur – Höhenkrankheit, ein eingebildetes Symptom
Im Heilbad ein Empfang «so kalt wie ein Gletscher»
Erstbesteigung des Monte della Disgrazia: «Forwärts meine Herren!» – Falschen Weg eingeschlagen – Von Blitz und Donner überrascht – Mürrischer Leslie Stephen – Ein englischer Diener an Melchiors Seil
Was macht den grossen Bergführer aus?
Ein Schwingfest wie aus einem Ritterroman – Eiskunst und Spürsinn wie ein Indianer – Eine strenge und eine sanfte Natur – Diplomatie und Hochhaltung des Bergführerberufs – Im Zickzack durch die halbe Schweiz und bis nach Slowenien
Melchior und das Matterhorn
Die Konkurrenz schläft nicht: Lucy Walker, die erste Frau auf dem Matterhorn – «Courage! Le Diable est mort!»
Reiche Touristen, arme Bergler
Pferde, Kutschen und Dampfeisenbahn: Die Reisemittel in den 1860er-Jahren – Bettelei, Ansingerei und schlechte Alphorntuterei werden polizeilich verboten – Ausländische Gäste klagen über stinkende Hotels und menschliche Parasiten – In den Alpen sind Kröpfe und Kretinismus allgegenwärtig
Melchior bei den Briten
Der Haslitaler reist dreimal nach England – Rauchende Fabriken und Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett begeistern ihn – Eine Londoner Galerie stellt seine Holzschnitzkunst aus
Einer der Engländer: Melchiors legendärer «Herr» und Freund Leslie Stephen
Stephen legt seinen Priesterorden ab – Im Alpine Club sorgt er für Zoff – Er heiratet und gibt das Bersteigen auf – Seine Ehefrau stirbt, ebenso seine zweite Ehefrau – Acht Kinder, darunter die spätere Schriftstellerin Virginia Woolf
Melchior, der Familienpatriarch
Lucy Walker, das grosse Kuriosum am Berg und an Melchiors Seite – Melchiors Leben auf Zaun bei Meiringen – Schicksalsschläge, Krankheit und Tod
Anhang
Karte der Schauplätze – Erstbesteigungen – Nachgewiesene Besteigungen und Übergänge – Ein Beispiel: Sechs Wochen mit Melchior Anderegg – Das Andereggjoch – Melchior Andereggs Erbe – Grosse Schweizer Bergführer – Quellen und Literatur – Register der Berge und Orte – Namensregister
WER IST MELCHIOR ANDEREGG?
Wer ist Melchior Anderegg? Diese Frage kann nur jemand stellen, der nie in den Schweizer Alpen war, wo sein Name ebenso bekannt ist wie Napoleon. Melchior ist auf seine Art auch ein Kaiser, ein Fürst unter den Führern. Sein Reich ist der ewige Schnee, sein Szepter der Eispickel.
Dies schreibt Alpinist Edward Whymper in seinem Bestseller «Scrambles Amongst The Alps», den er 1871 veröffentlicht, zu einer Zeit, als sich Melchior Anderegg auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Bergführer befindet, anspruchsvolle Erstbesteigungen leitet und mit seinen «Herren» unermüdlich neue Wege und Routen beschreitet. Zusammen mit den Engländern hat der Pionier aus Meiringen die frühe Geschichte des klassischen Alpinismus wesentlich geprägt. Dafür ehrt ihn der Alpine Club in London bis heute: «Unsere alpinistische Geschichte ist uns sehr wichtig. Und Melchior spielt darin eine wichtige Rolle», sagt Jerry Lovatt, gegenwärtiger Honorary Librarian.
Heute, wo befahrbare Strassen bis in die hintersten Winkel der Seitentäler führen und Bahnen viele hundert Höhenmeter Auf- und Abstieg erleichtern, kann man sich kaum noch vorstellen, mit welchen Schwierigkeiten die Bergsteiger im «Zeitalter der Eroberungen» zu kämpfen hatten. Wie reich an Mühseligkeiten und Fährnissen die Alpenreisen, selbst auf den gangbarsten Pfaden, gewesen sind. Als der junge Haslitaler Melchior Anderegg Anfang der 1850er-Jahre seine ersten «Herren» in die vergletscherten Höhen seiner Heimat führt, steckt der Alpinismus noch in den Kinderschuhen. Es gibt weder reissfeste Seile noch atmungsaktive Kleidung, weder Clubhütten noch verlässliches Kartenmaterial. Etliche Gipfel haben keinen offiziellen Namen. Man weiss nicht einmal sicher, welche Gefahren in dieser Terra incognita lauern, geschweige denn, wie man ihnen begegnen soll. Die Vertrautheit mit den hohen Bergen muss erst noch gefunden und erprobt, der Umgang mit Sturm und Nebel, Gletscherspalten und schmalen Felstritten erarbeitet werden.
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts sind gelegentlich Gelehrte zu Forschungszwecken ins Hochgebirge gestiegen. Nicht zum touristischen Vergnügen. Die einheimische Bergbevölkerung meidet die steilen, kalten Geröll- und Eishalden seit jeher. Sie sehen keinen Grund, dort hinaufzusteigen. Wozu auch? Als Bauern sind sie Selbstversorger, müssen schauen, dass sie durch den Winter kommen. Dort oben gibt es für sie nichts zu ernten. Die Menschen glauben gar, in den unzugänglichen Höhen leben Dämonen und Gespenster, die regelmässig Unheil ins Tal bringen. Lawinen, Murgänge, Überschwemmungen. Innert Minuten, so es der Teufel will, ist ein Dorf ausradiert.
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