VERBOTE, VERHAFTUNGEN, DRACHEN
Aber weder Petrarca noch Gessner dringen bis ins Hochgebirge vor. Es gilt nach wie vor als wertlos. Am meisten Geringschätzung bringen ihm jene entgegen, die ihm am nächsten sind: Die Alpenbewohner. Bei grösster Mühe der Bewirtschaftung bringt der Gebirgsboden nur geringe, oder gar keine Erträge. Zudem verkörpern die unfruchtbaren, dem Menschen gar gefährlichen Stellen des Gebirges seit dem Mittelalter die Wohnstätten höllischer Geister und des Teufels. Diesem Glauben leistet die Kirche offen Vorschub. 1387 stecken die katholischen Behörden der Stadt Luzern sechs Mönche ins Gefängnis und verweisen sie dann des Landes, weil sie auf den mythenumrankten Pilatus wollten. Dessen Besteigung ist bis ins 16. Jahrhundert per Gesetz untersagt. Man glaubt, nur schon eine Annäherung an den Berg und den Bergsee, wo gemäss der Sage angeblich die Leiche von Pontius Pilatus, römischer Statthalter in Jerusalem, versenkt worden sei, bringe schreckliches Unheil. «Grusame, ungestüme wätter und Hagel, windschlegen und anlaufen der bergwasser» wären die Folge. Über hundert Jahre nach den Mönchen, 1518, holt Joachim Vadian, Reformator aus Sankt Gallen, eine offizielle Bewilligung für den Pilatus ein und besteigt den Gipfel. In den gefürchteten See wirft er Steine, worauf sich – oh Wunder – kein Unwetter zusammenbraut. Sowohl die Mönche wie auch Vadian haben die Besteigung des Pilatus in erster Linie aus Protest gegen den Aberglauben und die religiöse Intoleranz dieser Zeit geplant.
Die Furcht vor dem Gebirge und den bösen Wesen, die es möglicherweise bewohnen, bleibt lange verbreitet. Dazu verhelfen nebst der Kirche wissenschaftliche Theorien. Wie jene des Zürcher Arztes Johann Jakob Scheuchzer: 1716 veröffentlicht er sein Werk «Naturgeschichte des Schweitzer Landes» (Itinera Alpina). Darin bringt er ausführliche Beschreibungen von Drachen in den Schweizer Bergen. Zur Illustration hat er Skizzen von sagenhaften Ungetümen erstellt, manche mit dem Körper einer Schlange und dem Kopf einer Katze oder mit Fledermausflügeln, andere mit kurzen Beinen und einem Hahnenkamm oder einem behaarten, zweigezackten Schwanz. Scheuchzer kann das Vorkommen der Drachen sogar nach Kantonen ordnen. Betroffen sind seiner Meinung nach die beiden Appenzell, Bern, Glarus, Luzern, Unterwalden, Zürich sowie das «Pündtner-Land», die Grafschaft Sargans oder die Landschaft Gaster. Es sei klar, so schreibt er, dass es solche Lebewesen gebe. «Sie mögen eine besondere Art der Tiere ausmachen, oder, wie viele wollen, Missgeburten sein; denn man siehet, dass nicht alle von einerlei Art sind.»
Drachen «existiren» in der Schweiz bis ins 18-Jahrhundert: Der Zürcher Gelehrte Johann Jakob Scheuchzer hat sie in seiner «Naturgeschichte des Schweitzer Landes» auch abgebildet.
Immerhin gehört Scheuchzer zu den ersten Gelehrten, die sich aus ihren Studierstuben hinauswagen und in die Alpen reisen. Auf hohe Gipfel schafft er es jedoch nie. «Theils wegen körperlicher Erschöpfung, theils wegen der noch zurückzulegenden Entfernung.» Und er stellt fest: «Nicht jeder vermag es, sich an der Besteigung von Hügeln zu erfreuen, die bis zu den Wolken reichen. Sehr wenige schätzen ein mühsames Unterfangen dieser Art, das keineswegs lukrativ ist.»
Scheuchzers enorm umfangreiche Forschungen zeigen, wie wenig noch im 17. Jahrhundert von den Alpen und den Talbewohnern bekannt gewesen ist. Nebst den Drachen beinhalten seine Bände Kapitel wie «von des Sennen Person», «von Bergen, Neblen und Wolken», «von den wässrigen und winddichten Luftge-schichten des Schweitzerlandes» oder «von den Überbleibseln der Sündflut». Er glaubt, die Berge seien hohl, und er zeichnet erste Karten «von den Gletschern, Schnee- und Eisbergen» im Berner Oberland und im Rhonetal, die allerdings etwa so verlässlich sind wie seine Drachentheorie. Nach ihm wurden später das Scheuchzerhorn und das Scheuchzerjoch benannt, die zum Gebirgszug zwischen Finsteraar- und Oberaargletscher gehören.
STÜRMER, DRÄNGER, ROMANTIKER
Ein ganz neues Gesicht bekommt das Gebirge im 18. Jahrhundert im Zeitalter der Aufklärung. Diese begegnet der Natur insgesamt mit den nüchternen Methoden der Wissenschaft, aber gleichzeitig wächst das Unbehagen und die Kritik am Glauben an die Messbarkeit. Empfindsamkeit, Sturm und Drang und schliesslich die Romantik suchen einen ganz anderen Zugang zu ihr und finden nicht zuletzt in der Natur Erholung von Zivilisation und gesellschaftlicher Konvention. Sie verweisen auf die irrationalen Seiten des Lebens, auf Leidenschaften, Unberechenbarkeiten, und so entdecken sie auch die «barbarischen» Alpen mit ihren schroffen Felsen und tiefen Schluchten als ihre Seelenlandschaft. Schon 1729 macht der Berner Universalgelehrte Albrecht von Haller mit seinem Gedicht «Die Alpen» Furore, in dem er der «verweichlichten Zivilisation» die Augen für die Schönheit der Berge zu öffnen versucht. Er verachtet Städter, die in Luxus und Genuss leben. Jean-Jacques Rousseau sieht die Alpenbewohner noch in einem unverdorbenen Naturzustand, Joseph von Eichendorff schreibt vom «reinen, kühlen Lebensatem», den die Bergbewohner «auf ihren Alpen einsaugen». Schriftsteller aus ganz Europa schreiben von «süssen Schauern», wenn sie in den Alpen «trotzig hinabschauen in die Schrecken». Lord Byrons «Manfred» von 1817, ein Hauptwerk der Romantik und oft vertont und gemalt, spielt unter anderem auf dem Gipfel der Jungfrau. Reisen in die Schweiz kommen in Mode. Aber weder Rousseau, Byron noch die Stürmer und Dränger sind Alpinisten. Johann Wolfgang von Goethe steigt auf unbedeutende Gipfel wie die Rigi oder den Brocken in Deutschland und macht Passtouren.
Gleichzeitig beginnt auch die Wissenschaft, die geheimen Schlupfwinkel und verborgenen Einöden der Alpen zu erobern. Eine Welt, «die mehr wundervoll als bequem, mehr schön als nützlich ist».
DIE GEISTLICHEN UND DIE GELEHRTEN
In der Schweiz werden die ersten namhaften Gletscherberge von Geistlichen bestiegen. Unter anderem der Titlis 1739, der Vélan 1779, die Dents du Midi: 1784. Zu den bemerkenswertesten frühen Pionieren gehört Placidus a Spescha (1752 bis 1835). Alleine oder nur von einem Schafhirten oder Diener begleitet, besteigt er eine ganze Serie von Gipfeln als erster: Rheinwaldhorn, Oberalpstock, Piz Cristallina, Urlaun, Uffiern, Terri, Ault, Stoc Grond, Scopi, Muraun, Güferhorn. Er ist Pater im Kloster Disentis, Kartograf, Geograf, Natur- und Sprachenforscher.
Als «geistiger Vater des Alpinismus» geht der vermögende Genfer Naturforscher Horace-Bénédict de Saussure in die Geschichte ein. Am 3. August 1887 steht er auf dem 4810 Meter hohen Mont Blanc, nachdem er 27 Jahre zuvor demjenigen eine hohe Geldsumme versprochen hatte, der eine Route auf den Gipfel findet. Begleitet wird er von seinem Diener, dem «Weg-Finder» Jacques Balmat und siebzehn Trägern. Sie schleppen Saussures «physikalische Werkzeuge und alle nöthigen Geräthe». Dazu gehören auch seine persönlichen Gegenstände wie Sonnenschirm, Zelt, Klappbett mit Matratze, Betttücher, Decken, zwei Überröcke, drei Jacken, drei Westen, sechs Hemden, ein weisser und ein Reiseanzug, Stiefel, Gamaschen, ein Paar Schuhe mit grossen und zwei Paar mit kleinen Spitzen, zwei Paar gewöhnliche Schuhe und Pantoffel. Für den mühseligen Aufstieg von Chamonix bis auf den Gipfel brauchen sie drei Tage. Ab den Grands Mulets muss Saussure alle fünfzehn Schritte pausieren, um Atem zu schöpfen. Oben angekommen, fühlt er aufgrund der Höhe «eine leichte Neigung zum Erbrechen». Das mitgebrachte Essen ist gefroren, und die Begleiter, denen die «Dünnigkeit der Luft» ebenfalls zur Last fällt, «bekümmerten sich nicht einmal um den Wein und gebrannte Wasser», schreibt Saussure später in seinem vier Bände umfassenden Werk «Voyages dans les Alpes». «Sie hatten wirklich gefunden, dass die starken Getränke die Unpässlichkeit vermehrten, wahrscheinlich weil sie den schnellen Umlauf des Geblütes noch beschleunigen. Bloss frisches Wasser that gut und war uns angenehm; aber es kostete Zeit und Mühe, Feuer anzumachen, und sonst war keines zu haben.»
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