Pavillon Dollfus, 1845 errichtet von Daniel Dollfus-Ausset, Fabrikant und Forscher aus dem Elsass.
Das Treiben der Gelehrten und vor allem ihre Behauptung, dass zwischen der Zeit der Schöpfung und der Gegenwart ganz Europa unter einer Eisdecke gelegen haben müsse, erregte die Neugier eines internationalen Publikums. Touristen kamen auf die Grimsel, um die Wissenschaftler bei der Arbeit zu beobachten. Nicht selten kam es vor, dass einer geglaubt hatte, das Hôtel Neuchâtelois sei ein behaglicher Gasthof. Diese Unterkunft hielt nicht lange, sie wurde vom fliessenden Gletscher und den Schneefällen im Winter zerstört. Der Pavillon Dollfus wurde daraufhin an einer sinnvolleren Stelle gebaut: Auf einem Felssporn etwa zweihundert Meter oberhalb des Unteraargletschers.
WEIN UND MILCHKAFFEE
Seit die Forscher weitergezogen sind, dient der verwitterte «Pavillon» nun den Alpinisten als Ausgangspunkt für die weite Tour über die Strahlegg. Kurz nach vier Uhr machen sich Melchior Anderegg, Huggler, Hinchliff und Dundas vom Hospiz auf den Weg. Um sich gegen die Sonne zu schützen, haben sie Schleier um ihre Hüte gewunden. Melchior trägt in seinem Rucksack Proviant und an der Aussenseite hat er ein Seil befestigt. Statt des gewöhnlichen Alpenstocks gebraucht er eine Kombination aus Axt und spitzer Stange, welche zu dieser Zeit in Chamonix bekannt ist.
Huggler buckelt den Weinkeller, einen Blechkanister mit Riemen, damit er wie ein Rucksack getragen werden kann. «Er war so gross, dass die Leute hätten glauben können, wir würden für eine ganze Woche ausrücken», schreibt Hinchliff später. Selber schultern die Engländer nichts. Ihr Reisegepäck haben sie für sechs Franken durch einen Träger via Meiringen und Grosse Scheidegg ins Hotel Adler nach Grindelwald bringen lassen.
Noch bevor sie zum Unteraargletscher kommen, holen sie einen Gentleman aus Deutschland ein. Er will sich der Gruppe für die Tour anschliessen. Melchior hat nichts dagegen, es gibt genug Vorrat für alle. Obschon das Gehen auf dem steinigen, aber zuweilen steilen Pfad einfach ist, fällt der Deutsche immer weiter zurück. Oben auf der Moräne müssen sie einige Zeit auf ihn warten. Als die fünf kurz vor sieben im letzten Anstieg zum «Pavillon» sind, dunkelt es ein, und sie erleben einen Moment, den Hinchliff als «selten schön» in Erinnerung bleibt: «Der Mond ging in seiner vollen Pracht hinter der gigantischen Bergkette auf und brachte die Schneegipfel wie in Silber getaucht zum Leuchten. Wir standen da und schauten in aller Stille und Bewunderung zu, bis uns der Trägerbursche entgegeneilte und rief: ‹Das ist der Mond!› Wir alle mussten herzlich lachen. Dass uns der arme Kerl erklärte, dass das der Mond war, hatte etwas Absurdes. Wie klein der Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen doch sein kann!»
Die Hütte ist in zwei Kammern aufgeteilt. Eine für die «Herrschaften», eine für die Bergführer. Als Schlafunterlage steht ein Haufen Heu zur Verfügung. Neben einer kleinen Grube, die als Küche dient, stehen Tisch und Bänke. Der Bursche hat schon vor ihrer Ankunft mit dem mitgetragenen Holz angefeuert. Es gibt kaltes Schaffleisch, Brot und Käse, dazu heissen Milchkaffee. «Danach verbrachten wir den Abend angenehm mit Wein und einer Pfeife», so Hinchliff. Gegen neun Uhr wickeln sie sich in die Decken, liegen «wie Mumien nebeneinander» und hätten sehr komfortabel genächtigt, «wären wir Menschen die einzigen Lebewesen in den Heubetten gewesen». Hinchliff versucht, die Flöhe gelassen zu nehmen und kann «recht gut schlafen», bis ihn das Geräusch der Türe aufweckt. «Als ich aufschaute, sah ich die dunkle Kontur Melchiors vor mir. Er sagte, es sei halb vier und Zeit für das Frühstück. Also standen wir auf, assen wieder Schaffleisch und tranken Kaffee. Der Deutsche sass ebenfalls mit uns am Tisch.» Der Mut hat ihn verlassen. «Ohne um den heissen Brei zu reden, sagte er, die Expedition sei nichts für ihn, er gehe mit dem Träger zurück. Wir wollten ihn nicht davon abhalten. Als wir mit unseren zwei Führern gegen fünf Uhr rechts von der Hütte wegmarschierten, gingen er und der Bursche hinab zur Grimsel.»
SCHRECKEN BEIM BERGSCHRUND
Melchior führt seine Truppe über den Unteraargletscher hinauf zum Finsteraargletscher. Mit dem Stock sondiert er verborgene Schründe unter dem trügerischen Schnee und mahnt die Engländer zu sorgfältigem Gehen. Zwischendurch müssen sie über Spalten springen, was Hinchliff nicht Angst, sondern Spass macht. Nach drei Stunden erreichen sie den Strahleggfirn und legen einen Frühstückshalt ein. Besonders «fürstlich» ist der Trunk aus der Blechflasche, die sie sorgfältig mit Schnee gekühlt haben.
Die steigende Sonne weicht den Firn auf, was den Marsch mühsam macht. Im Steilhang zum Strahleggpass binden sie erstmals auf dieser Tour das Seil um und stapfen in einer Reihe weiter, Melchior voran, gelegentlich bis zu den Hüften einsinkend. Beim offenen Bergschrund erlebt Hinchliff einen Schrecken. Melchior überwindet die Kluft, stampft auf der anderen Seite mit den Füssen einen Standplatz in den Firn und fordert Hinchliff auf, nachzukommen. Beim ersten Versuch verschwindet dieser bis zum Hals im Schrund. Vom Seil festgehalten und gezogen, kann er sich schwitzend emporarbeiten. Dundas und Huggler folgen mit weniger Kapriolen. Melchior spricht kein Wort, bis sie den Übergang auf der Strahlegg auf 3332 Meter gegen zehn Uhr erreichen.
Von der Grimsel über den Strahleggpass nach Grindelwald – oder umgekehrt: Eine fast dreissig Kilometer lange Gletschertour.
Zeit für das frühe Mittagessen. Die Sonne glüht, und der mit Schnee «frappierte» Wein schmeckt wieder köstlich. Inzwischen macht die Sonneneinstrahlung und die Hitze den Engländern zu schaffen. Trotz Schleier verbrennt ihre Gesichtshaut. Sie schauen sich noch eine Weile die Aussicht an, dann geht es über die langen, mit Fels durchsetzten Schneefelder zum Oberen Eismeer hinunter. Um rascher vorwärtszukommen, bewerkstelligen sie diesen Abstieg zwischendurch auf dem Hosenboden: Sie setzen sich nah hintereinander in den Schnee, umfassen die Beine des Hintermannes und rutschen los. Bei einer dieser «Schlittelfahrten» über den buckligen Untergrund bricht der Zug auseinander. Unter Gelächter sausen sie die Bahn hinab, wobei ein Fläschchen Schnaps verloren geht.
Später, beim Queren einer steilen und gefrorenen Schneepassage, verliert Hinchliff den Halt und schiesst «wie ein Blitz» in die Tiefe. «Unter mir sah ich ein Meer von Spalten, auf das ich hilflos zusteuerte. Zum Stillstand kam ich glücklicherweise in einer kleinen Spalte, die schmal genug war, um mich aufzuhalten, aber nicht breit genug, mir Harm anzutun.» Melchior steigt aufgeregt zu ihm ab. Für den Rest des Abstiegs nimmt er die Engländer ans Seil. An steilen und schwierigen Felsen sichert er die beiden daran hinab. So gelangen sie zum Unteren Grindelwaldgletscher und über einen schmalen Pfad hinab ins Dorf. Um 16.30 Uhr treffen sie im «Adler» ein.
Die Bergführer bekommen je dreissig Franken und ein Trinkgeld. Im Preis mitberechnet ist ihr Rückmarsch auf die Grimsel. Hinchliff ist begeistert. «Wir haben die Strahlegg-Reise sehr genossen. In der Freude über die Abenteuer des Tages betrachten wir uns als überaus entschädigt für die Kosten und die Mühe.»
Es ist die erste, im einzelnen bekannte Tour von Melchior Anderegg. Von Huggler, dem zweiten Führer, vernimmt man eigentlich nur, dass er den Weinkeller getragen hat.
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