Fahrend? Um die Ötztaler Alpen
Einführung Edith Hessenberger/Michael Haupt
Migration und Mobilität im Tiroler Oberland in der Frühen Neuzeit Michael Span
Die Jenischen im Tiroler Oberland Roman Spiss/Elisabeth Maria Grosinger-Spiss
Die Haiminger Landfahrer im Spiegel der Zeit Manfred Wegleiter
Fragmente einer Familiengeschichte aus dem Oberland Stefan Dietrich
Die Vinschger sain Korrner! Helene Dietl Laganda
Die Jenischen im Nationalsozialismus Horst Schreiber
Was bleibt vom Pionier, Kulturvermittler, Sammler und Dichter Romed Mungenast? Überlegungen mit Blick auf seine Sammlung im Forschungsinstitut Brenner-Archiv Christine Riccabona
„Ich habe mein Leben geändert.“ Romed Mungenast im Gespräch Thomas Huonker
Fremdbilder >< Selbstbilder. Leben mit der Geschichte jenischer Ahnen Edith Hessenberger
Gedichte Sieglinde Schauer-Glatz
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Personenregister
Ortsregister
Autorinnen- und Autorenverzeichnis
Krippenfigur „Karrenzieher“ von Johann Giner d.J. (1806–1872), Sammlung Tiroler Volkskunstmuseum
Jenische Realität oder bürgerliche Romantik? – Skizze des Imster Malers Johann Linser, 1875
Einführung
Edith Hessenberger/Michael Haupt
Die jenische Geschichte Tirols ist keine, die häufig erzählt wird, sie ist keine Geschichte, die sich in Schul- oder in Dorfbüchern findet. Sie ist unsichtbar, wie auch die Jenischen unsichtbar sind. Ihre Existenz ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten, ihre Realität wird meist nicht als Teil der Tiroler Geschichte erinnert. Das ist einer der Gründe, warum die Ötztaler Museen, die Initiative Minderheiten und das Vintschger Museum diesen Aspekt unserer Geschichte im Rahmen des von der Europaregion Tirol-Trentino 2021 ausgerufenen Museumsjahres zum Thema „Transport –Transit – Mobilität“ (einmal mehr) in ihren Fokus genommen haben. Der Blick schweift dabei ganz bewusst über den „Tälerrand“ hinaus.
Schon im Titel des vorliegenden Buches steckt eine Frage: „ Fahrend? Um die Ötztaler Alpen. Aspekte jenischer Geschichte in Tirol“. – Welche Bilder tauchen in unseren Köpfen auf, wenn wir von Jenischen hören, und wie sehr entsprechen sie der historischen, aber auch der aktuellen Realität? Waren Jenische wirklich ein fahrendes Volk , wie häufig kolportiert wird? Wie sehr unterschieden sich Jenische in dieser Hinsicht von der sesshaften Bevölkerung , war diese tatsächlich so immobil und ortsgebunden, wie häufig angenommen wird?
Bis heute wird in Bezug auf Jenische in Tirol häufig von Karrnern , Dörchern , Laningern etc. gesprochen. In Nordtirol hat sich in der wissenschaftlichen Arbeit zur jenischen Geschichte die Überzeugung durchgesetzt, dass diese landläufigen Bezeichnungen vermieden werden sollten. Zu lange transportierten sie sowohl negative Stereotype als auch romantische Verfälschungen, bis heute werden sie im Tiroler Sprachgebrauch als Schimpfwörter verwendet. Das stärkste Argument ist jedoch, dass eine Reihe Jenischer, die sich heute um eine kritische Aufarbeitung ihrer Geschichte in Tirol bemühen, die Bezeichnung Karrner etc. deutlich von sich weisen und als beleidigend empfinden.
In Südtirol stellt sich die Situation etwas anders dar. Hier wurde der Begriff Korrner durch kritische Kulturarbeit, wie etwa in Form der literarischen Arbeiten von Luis Stefan Stecher, seit den 1970er Jahren teils auch positiv konnotiert. 1978 wurde Stechers Band „Korrnrliadr: Gedichte in Vintschger Mundart“ veröffentlicht, in dem er Jenischen ein Denkmal setzen und von ihrem Alltagsleben berichten wollte. Durch die Vertonung von Ernst Thoma sind viele dieser Gedichte zu Volksliedern geworden. Zuletzt wurden von Heiner Stecher, Luis Stefan Stechers Sohn, zusammen mit seiner Band Flouraschwarz mehrere Gedichte neu vertont.
So kommt es, dass im vorliegenden Band nicht nur unterschiedliche Herangehensweisen an Fragestellungen rund um jenische Geschichte in Tirol, sondern auch unterschiedliche sprachliche Zugänge deutlich werden. Diese Tatsache macht die Komplexität der Geschichte und Gegenwart Jenischer in Tirol deutlich, die zwischen Diskriminierung und Marginalisierung, vollkommener Integration und nicht zuletzt in den aktuellen Bemühungen um Anerkennung als Volksgruppe in Österreich mündet.
Für eingehende Betrachtungen verschiedenster Aspekte jenischer Geschichte in Tirol konnten dankenswerterweise eine Reihe hervorragender Wissenschafterinnen und Wissenschafter gewonnen werden. Mobilität ist das Thema des EUREGIO-Museumsjahres 2021 – aus diesem Grund wird auch die Frage danach, ob Mobilität nun Ausnahme oder Alltag im historischen Tirol war, an den Eingang des Buches gestellt. Der Historiker Michael Span erstellt unter dem Titel „Migration und Mobilität im Tiroler Oberland in der Frühen Neuzeit“ einführend einen Überblick über die Formen und die Bedeutung von Mobilität in Tirol – in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen. Bereits im 16. Jahrhundert gab es erste Bestrebungen im Rahmen der Tiroler Landesordnung, die Mobilität der Tiroler strenger zu regeln. Wanderhandel, Bettel und Migration standen jedoch bis ins 20. Jahrhundert an der Tagesordnung.
Von der allgemeinen Mobilitätsgeschichte hin zur Geschichte der Jenischen führen Elisabeth Maria Grosinger-Spiss und Roman Spiss im Beitrag „Die Jenischen im Tiroler Oberland“, in dem sie am Beispiel konkreter Familiengeschichten historische Realität erfahrbar machen. Diese war geprägt von der Verachtung der „Vagabunden“, die manchmal ihre gesamte Habe auf Karren mit sich führten, abseits der Siedlungsgebiete lagerten und sich als Tagelöhner oder als Besenbinder, Scherenschleifer, Regenschirmund Pfannenflicker oder Korbflechter den Lebensunterhalt verdienten, durch die sesshafte Bevölkerung. Ihre Lebensweise brachte sie regelmäßig in Konflikt mit dem Gesetz und den Interessen der sesshaften Bevölkerung, die sie als „Karrner“ , „Dörcher“ oder „Laninger“ bezeichnete. 1 Die marginalisierten Dauer-Wanderer waren schon bald stigmatisiert, wie ein Bericht des Brunecker Kreisamtes aus dem Jahr 1818 verdeutlicht: „Als Hauptschule des Verbrechens sieht (man) die sogenannten Landfahrer, Dörcher, Karrenzieher; die Deserteurs und die arbeitsscheuen Vagabunden an.“ 2
Abb. 1: Schloss Wiesberg mit fahrender Familie im Vordergrund, gezeichnet von Carl Viehbeck, 1820
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