»Klinikum? Labor und so?«
»Genau. – Und du? Was machst du so? Außer in fremden Wohnungen wühlen?« Sie lachte dabei, und das bedeutete, dass sie ihm verziehen hatte, was Birne gut fand. Er hatte sich zu etwas Albernem hinreißen lassen und hatte dafür das Rendezvous mit dieser wunderbaren Frau geerntet. Birne erzählte ungern von sich, wenn sein Leben so wenig aufregend war wie zurzeit; er ließ sich mühsam rausziehen, was er hier trieb, was er vorher in München gemacht hatte. Dass er hier war, weil ihm diese Stadt wegen einer anderen Frau zu klein geworden war, verschwieg er.
»Bist du da in einem Labor?«, wiederholte der wildfremde Mann Birnes Frage an Simone. Er hatte halb zugehört und halb nicht, wollte aber auf jeden Fall in ihr Gespräch eindringen. Warum? War er einsam? Wahrscheinlich. Birne war überfordert. Hätte ihm jetzt gerne eine reingesemmelt, um Simone zu beeindrucken. Sie sagte: »Ja.« Und der Mann darauf: »Aha.«
»Was machst du da?«, wollte Birne wissen.
»Untersuchungen.«
Der Fremde lachte, lachte, als ob er gefragt werden wollte, warum er lachte.
»Warum lachen Sie?«, fragte Birne.
»Sag du«, sagte der Mann.
»Du.«
»Was sollen sie sonst machen im Labor? Untersuchungen halt. Ich bau doch auch keine Kegelbahn, damit die Besucher dann drauf Schach spielen.« Klar. Simone lachte laut. »Entschuldigung.« Hand vor den Mund, böser Blick von Herrn Birne.
Jetzt Gelegenheit für den Mann für Lebensgeschichte: »War auch mal in einem Labor, hat mir nicht gefallen, wirklich nicht. Ich brauch was anderes, bin dann raus auf die Straße – im wörtlichen Sinn: Ich wurde Kraftfahrer. Ich weiß nicht, wie alt ihr mich schätzt – ihr seid ja noch jung – aber ich habe nun 25 Jahre auf dem Bock eines Schleppers verbracht. Dann war das auch Scheiße wegen dem Kreuz und so und immer dasselbe hirnlose Gelaber aus dem Radio, ganz egal, ob Bayern 1 oder Antenne, immer dasselbe und die Lieder, ich sag’s euch, kein Cash, immer nur Retortengruppen, vom Bohlen gecastet, von RTL über einen Sommer verheizt und du sitzt und fährst und denkst: Mit dieser Musik wirst auch du verheizt, ruinierst dich für irgendeinen Spediteur, der für einen anderen Unternehmer Vieh durch die Gegend transportierten lässt, eine auf den Deckel bekommt, wenn ihm eine Henne verreckt und dieselbe bekommst du auch auf den Deckel mit dem Ergebnis, dass du eine Nacht mehr eine Stunde weniger schläfst, dich für den Kapitalisten aufbrauchst. Nein, hab ich mir gesagt, wann soll das System denn zusammenbrechen, wenn du nicht aussteigst. An dir ist es, geh da raus aus dem System.« Jetzt zupfte er Simone am Ärmel und die sah aus, als hätte sie im Augenblick unterschrieben, hätte er ihr einen Zettel hingehalten, auf dem stand: »Ich steig aus aus dem System.« Aber wohin steigen wir aus? Wovon sollen wir dann leben? Wer bezahlt uns das Nutella aufs Brot und wer uns das Brot?
»Was machst du dann jetzt?«, fragte Birne.
»Wie, was mach ich jetzt? Ich sitz mit euch hier und red.«
Simone lachte.
»Wovon lebst du?«
»Von Luft und Liebe. Liebe. Für euch ist das immer so entscheidend: Wer du bist, ist definiert durch das, was dir das Geld bringt. Du isst kein Geld, du bist nicht dein Geld, Alter. Kapier das.«
Endlich Simone: »Aber wenn gar keiner mehr arbeitet, dann gibts auch nichts mehr, das ist doch dann auch blöd. Vielleicht müssen wir weniger arbeiten und das Leben mehr genießen, das ist richtig, aber ganz auszusteigen, können wir uns auch nicht leisten.«
»Ich rede doch auch nicht davon, nicht mehr zu arbeiten, ich meine, Arbeiten ist gut, wenn es einen Nutzen bringt – ich meine dir und jenseits vom Geldbeutel. Ich kann mit meinen Händen so viel vollbringen: Wozu soll ich in ein Arschloch-Möbelhaus fahren, wenn ich mir meinen Schrank, meine Küche selbst zimmern kann? Damit die ihrem fetten Ottfried Fischer ihre Werbung zahlen können? Damit der noch mehr fressen kann. Wozu brauch ich einen Supermarkt, wenn ich mir meine Kuh, mein Schaf, mein Huhn selbst halten kann? Burger King? McDonald’s? Kentucky Fried Chicken? Subway? Wusstest du, dass die für die schicken Markenklamotten, die ihr bei H&M kauft, in China Kinder zum Teil 18 Stunden am Tag schuften lassen ohne Feiertag, ohne Urlaub, für 1,80 Euro am Tag? Die sind glücklich. Du fragst dich, wie kann man da glücklich sein darüber, über zehn Cent in der Stunde? Aber in China sind selbst 1,80 am Tag ein Haufen Geld und die ernähren damit ihre Familien auf dem Land. Da haben sie nämlich noch viel weniger, im Prinzip gar nichts und weißt du warum: Die haben ihre Hühner schlachten müssen, ihre Hühner, von denen sie gelebt haben: Fleisch, Eier, Federn – praktisch alles haben die verarbeitet, den Kot zum Hausbau und so weiter und dann mussten sie sie schlachten. Wieso? Wegen uns. Wegen dem Westen, weil wir behauptet haben, da kommt die Vogelgrippe her, davon müssen wir alle sterben. Aber Pfeifendeckel: Die haben Angst hier, dass sie ihre Hühner nicht mehr verkaufen können und deswegen, wegen unseren deutschen Hühnern, müssen in China die Menschen verhungern oder sich ausbeuten lassen. Was ist das für eine Wahl?«
»Das ist ja entsetzlich«, meinte Simone.
Entsetzlich fand das auch Birne und bot sich an, für Simone und sich neues Bier zu besorgen. Simone hatte im Schock über die furchtbaren Zustände anderswo schier vergessen zu trinken, wollte nichts Neues, Birne dagegen hatte fast schon manisch getrunken, um einen Moment wegzukommen, an die Theke zu kommen zu anderen Menschen. Der Fremde hatte leer, bat Birne, ihm ebenfalls ein neues Helles zukommen zu lassen. Er zog eine Tabaktüte heraus, drehte sich eine extrem dünne und harte Kippe und bot Simone ebenfalls an. Die lehnte ab, weil sie erstens nicht rauche, zweitens nicht drehen könne. Der Fremde übernahm den zweiten Part für sie, sie musste nur noch rauchen. Birne rauchte auch, selbstverständlich nur innerlich.
Das dünne Mädchen mit der blassen Haut und den schwarzen Haaren am Ausschank war ungeheuer freundlich, Birne gefiel sie außerordentlich, optisch und wahrscheinlich auch seelisch das Gegenstück zu Simone. Er wollte mit ihr mehr reden als »Was kriegst du?« und »Zwei Helle, oder halt: ein Dunkles, weil heute Beerdigung war.«
Sie bückte sich, holte die Flaschen aus dem Kühlschrank, Birne dachte: Simone hat einen Freund, für den bin ich der andere Mann, ich habe gar kein Recht, eifersüchtig zu sein. In 666 von 667 Fällen wird dir eine Frau, die du einem andern ausspannst, auch wieder ausgespannt. Ich habe gar kein Recht, mich in Simone zu verlieben, schon allein, um mich zu schonen und weil ein Mensch niemals das Eigentum oder auch nur der Besitz eines anderen sein kann oder darf. Wo kämen wir denn da hin? Nach China?
»Hat euch der Künstler erwischt?«, fragte das Mädchen, das Birne Bier reichte.
»Der Künstler?«, fragte Birne und wähnte sich im Gespräch.
»Ja. Der stellt aus, oben im ersten Stock. Habt ihr euch das noch nicht angeschaut? Schaut das lieber an, ist vielleicht besser, als ihm zuzuhören.«
»Sicher.«
»Kostet auch nichts – wenn ihr nichts kauft.«
»Klar. Danke.«
»Stell dir vor: Er ist Künstler, er stellt hier aus«, teilte Simone Birne mit, als er zum Platz zurückkam, klopfte dabei auf seine Schulter, was ihr möglich war, weil sie sich neben ihn gesetzt hatte.
Der Mann nickte und sagte: »Hast du mir ein Dunkles mitgebracht? Das ist nett, das trink ich auch gern.«
»Das Dunkle ist für mich, ich hab einen Anlass, das Helle kostet 2,50. Bitte.«
»Nachher. Ich muss wechseln. Aber war mir klar, dass du als Erstes übers Geld reden würdest, wenn du zurückkommst, war mir klar.«
»Du hast mir ja nichts von deiner Kunst gesagt.«
Simone forderte mehr, als sie bat: »Oh bitte, lass uns nach oben gehen.«
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