Sie sagte: »Ich wollte dich eigentlich bitten, mir ein paar Möbel zu verrücken. Unten.«
»Schon wieder.«
»Wär supernett von dir. Ich würd mich auch revanchieren.«
Birne dachte an den Schnaps von Frau Zulauf. Mit ihr würde er sogar den saufen.
»Sollen wir es gleich packen, nicht dass dein Bernd eifersüchtig wird?«
»Ja, aber trink deinen Kaffee aus. Auf der Flucht sind wir noch nicht.«
Birne kostete seine Schlucke aus. Sie war bei ihm, und er fand sie wunderschön, die Simone.
Sie gingen runter zehn Minuten später. Simone sperrte auf und führte ihn gerade in die Küche.
»Der wär’s, der Schrank. Wenn du mir den ein wenig wegrücken könntest, hättest du mir mächtig geholfen.«
Das war ein Vorwand, das war Birne sofort klar. Dieser Küchenschrank war uralt, vielleicht 40 Jahre alt. Darauf lagen noch eine Brille und ein paar geöffnete Briefe, meist Einladungen und Spendenaufrufe für Blinde. Neben der Eckbank, die um einen Tisch mit einer Plastikblumentischdecke stand, lag ein Stapel alter gelesener Zeitschriften. Dazwischen erkannte er seine Zeitungen. Die Alte, dachte Birne.
»Hast du was?«, fragte Simone, weil er innehielt.
»Dort ist sie gelegen, nicht wahr?«, sagte Birne und zeigte auf den Boden vor der Spüle.
»Ja, das Blut war das Einzige, was die von der Polizei weggeputzt haben. Eigenartig, nicht? Ich habe mal einen Film gesehen, der ging um eine schöne junge Frau, die den Job hat, die Mordplätze von Blut zu säubern.«
»Eine schöne junge Frau wie du?«
»Die war schwarzhaarig. Ich bin blond.«
»Aber schön.«
»Danke.«
»Du bist mir schon mal im Fitnessstudio aufgefallen.«
»Echt?«
»Ja, ich bin auch öfter dort. Wohin soll der Schrank?«
»In den Gang bitte.«
Birne war wieder Möbelpacker. Er zog das Ding in den Gang und wusste nicht, wieso er das tat, wo alles nur ein Vorwand war. Er steckte in seinem Jogginganzug und schwitzte nun doch. Er schwitzte, weil er zupackte und schleppte. Simone half ihm, aber das hatte keinen Wert, sie langte nicht wirklich hin. Sie wollte nur, dass es nicht so aussah, als erledige er die Arbeit allein.
»Du, danke. Ohne dich hätte ich das nie geschafft. Ist mir total unangenehm, dich jetzt einfach so wegzuschicken, aber ich habe nichts, womit ich dich belohnen könnte.«
Sie hat vor allem keine Ahnung, dachte Birne. »Das letzte Mal habe ich Schnaps bekommen.«
»Von ihr?«
»Ja.«
»Den suchen wir.«
Der stand im Küchenschrank, den Birne gerade in den Gang geschoben hatte. Er hatte es klirren gehört und sich nicht getäuscht. Jetzt tranken sie Schnaps.
»Wäh.« Sie verzog das Gesicht. »Der ist ja scheußlich.«
»Finde ich auch, aber für mich schmeckt er nach Belohnung.«
»Weißt du was? Wenn du mich jetzt in Ruhe lässt und meine Arbeit machen, dann lade ich dich heut Abend auf einen Cocktail ein – zur Belohnung.«
»Ist in Ordnung. Die schöne junge Frau, die das Blut vom Boden putzt.«
Birne war glücklich, als er nach oben zu sich ging, so glücklich, dass er den Fernseher einschaltete, wo er schon mal den Jogginganzug anhatte.
Und duschen und sich sauber machen innen und außen und warten. Sie klingelte um 19.30 Uhr und holte ihn ab. Sie wusste was, wo man nett was trinken konnte, wenn er nichts Besseres wüsste. Wusste er nicht, ob das, was er wüsste, was Besseres wäre als das, was sie wusste und ließ sich auf sie ein. Sie führte ihn – sie konnten zu Fuß gehen – an den Rand der kleinen Fußgängerzone in eine Kneipe, die im Sommer eine Terrasse zum Draußensitzen hatte. Jetzt im Frühjahr, nachdem erst gestern noch Schnee gefallen war, setzten sie sich rein. Das sah ein bisschen nach alternativ aus, ein bisschen so, wie man es hier nicht erwartet hätte: Kahle Wände waren bunt angestrahlt, im großen offenen Raum standen Sitzgruppen aus verschiedenen Sesseln, Sofas und Stühlen, die nie die gleichen waren. Das Bier oder den Cocktail, zu dem sie ihn einladen wollte, musste man sich selbst holen an einer langen Theke an der Frontseite, über die man außer den Getränken stolz und aller Political Correctness trotzend Drehtabak verschiedener Arten verkaufte. »Tabaccherie« stand auf einem Neon leuchtenden Schild über der Kasse und den gespülten Gläsern. Es lief eine elektronische leichte Musik. Die Kneipe hieß Künstlerhaus, ein Schild wies eine Wendeltreppe nach oben zu einer Ausstellung. Simone führte Birne zu einem Mosaikrundtisch, ließ ihn auf einem Korbsessel Platz nehmen, ließ sich damit einen stoffbezogenen Bauernstuhl frei und fragte Birne, was er wolle. Birne wollte keine Experimente, er wollte ein Bier. Sie verschwand für einen Moment Richtung Theke zu einem schwarzhaarigen, ziemlich jungen, mageren und hübschen Mädchen. Birne schaute sich um und fand die meisten hier ziemlich jung und hübsch und fühlte sich wohl hier bei dem Sound und in Erwartung eines Biers mit Simone.
Der Mann sagte: »Servus« und »Darf ich mich da hinsetzen?«
Der Fremde war aus dem Nichts aufgetaucht. Was hätte er ihm verbieten können. Hilflos suchte er Simones Blick und Einverständnis. Sie stand da an der Theke, wurde bedient, wippte im Takt der Musik und lächelte zu ihm herüber.
»Bitte.«
Der Mann ließ sich nieder. Abgestandener Tabak- und Schweißdunst wehte zu Birne herüber. Der Mann war nicht mehr ganz jung, sah aber relativ frisch aus. Er schonte sich und seine Ressourcen, das sah man.
»Wie geht’s?«, wollte er wissen.
»Passt«, antwortete Birne kurz, weil er sich nicht mit dem unterhalten wollte, wenn Simone wieder da war.
Als sie zurückkam, fragte er sie, während sie sich auf einen Stuhl setzte, den sie von einem anderen Tisch holte: »Viele Studenten hier, oder?«
»Nein, weiß nicht, eher weniger«, antwortete sie ihm in ihrem leichten Ostakzent, der durch die Zeit, die sie hier verbracht hatte, hörbar am Schwinden war.
»Nicht?«
»Die Studenten hier sind nicht so drauf, die sind sehr zielstrebig und wollen keine Kneipen wie die hier. Die wollen einmal im Semester eine Party, bei der sie sich besinnungslos saufen können und den Rest der Zeit lernen und Praktika machen. Lass dich nicht mit denen ein, außer du willst langweilig werden.« Sie streckte ihm ihre Halbe entgegen, um anzustoßen. Birne fand es sympathisch, dass sie wie er Bier trank.
»Hast du studiert?«
»Ja, eine Zeit lang, bis ich es langweilig fand. Chemie in Greifswald. Aber die wollten uns keine Freude lassen im Leben, dann habe ich mir gedacht: Das ist doch die Zeit, die wilde im Leben, wenn man studiert, und das ist mir zu stressig; also hab ich abgebrochen und bin hierher.«
»Und was machst du hier?«
»Ich hab mich zur MTA ausbilden lassen.«
Da meldete sich der Fremde: »Es sind eine Menge Studenten, so wie du: die herausgefallen sind, aber das ist gut, ist eh ein blödes System, da ist es gescheiter zu scheitern.« Er unterdrückte seinen einheimischen Akzent, wenn er ins Philosophische abschweifte.
Simone und Birne ignorierten ihn beide, ohne sich abzusprechen, fanden es blöd, belästigt zu werden, aber auch cool, sich gemeinsam abzuschirmen, keinen mehr reinzulassen zu sich in ihre junge Gemeinschaft.
Birne konnte mit Abkürzungen nichts anfangen, er wusste, was USA bedeutet und SPD, und dass man sich einen Haufen Zeit im Leben sparen konnte, wenn man diese Wörter nie ganz aussprach, aber alle anderen Abkürzungen regten ihn auf, weil er immer überlegen musste, was die anderen damit meinten und damit die Zeit mit Überlegen wieder einbüßte, die er sich selbst mühsam gewonnen hatte durch das Verwenden von Abkürzungen. MTA.
»Was ist MTA?«
»Medizinisch-technische Assistentin.«
»Ach so. Und da arbeitest du jetzt auch?«
»Ja.«
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