Sein Haus hob sich mit einem noch dunkleren Grau gegen das Grau des Himmels ab. Es gab kein Licht in seinem Stockwerk und auch keines in dem der Toten – das hieß, ihre Jungen waren weg. Nur in den früh heruntergelassenen Rollläden der Kemals im Erdgeschoss waren gelbe Schlitze zu sehen. Sie hatten was zu verbergen und schauten gemein in die Welt hinaus. Ohne sich abzutrocknen, beschloss Birne, würde er sie nun aufsuchen und ihnen alles vor die Füße knallen, bis er fertig wäre mit ihnen.
Er klingelte an ihrer Wohnungstür und hörte gleich darauf, wie jemand drinnen den Haustüröffner drückte. Birne klopfte, um zu signalisieren, dass er schon da war. Es wurde geöffnet, der Junge stand vor ihm und schaute ihn mit großen Augen von unten an, sagte nichts. Er kannte Birne nicht und hatte keine Ahnung, was er wollte.
»Ist deine Mama da?«, sagte Birne und wunderte sich selbst, wie nett er klang.
Das Kind drehte sich um und rief in den Gang hinein.
Kurz darauf erschien Frau Kemal. Sie setzte ein ernstes Gesicht auf und öffnete die Tür weit.
»Hallo«, grüßte Birne.
Die Frau ging zur Seite und ließ Birne eintreten, sie sagte nur »Bitte« und wies ihm den Weg zu Küche. Dort wartete der Bruder. Es roch nach Gemüse. Auf dem Herd stand ein Topf, in dem etwas köchelte, auf dem Tisch lagen Reste eben geschnittenen Gemüses, direkt vor dem einzigen nicht belegten Stuhl. Die Kinder standen im Hintergrund und wollten ebenfalls mitbekommen, was es Neues gab im Fall des Vaters. Birne setzte sich unaufgefordert hin. »Hallo.«
»Guten Tag«, grüßte der Bruder. Mehr nicht. Birne schwieg mit.
»Sie haben mich verhaftet.«
»Haben Sie etwas gefunden?«, fragte der Bruder sehr sachlich, sehr ruhig, was Birne wütend werden ließ. Die hatten nur ihren Kram im Kopf, der Ärger, den er sich eingehandelt hatte, interessierte sie nicht.
»Nein, und die Polizei ist sich sicher, den Richtigen zu haben.«
»Das stimmt nicht«, widersprach Frau Kemal laut. »Sie haben Ihnen Unsinn erzählt, sie haben Sie mit Blödsinn geimpft. Jetzt sind Sie ein Nazi wie die.«
Das brachte den letzten Tropfen Geduld in Birne zum Überlaufen: »Was wollen Sie von mir? Was soll ich denn tun? Soll ich denen sagen, dass ich es war?«
»Wollen Sie Geld haben?«, fragte der Bruder und brachte wieder etwas Ruhe in den Raum.
»Nein, das habe ich Ihnen schon gesagt. Es hat nur keinen Sinn. Sie müssen sich etwas anderes einfallen lassen. Wieso gehen Sie nicht selbst hinein?«
Es klingelte wieder an der Tür. Frau Kemal sagte etwas auf Türkisch zu ihrem Sohn, und der ging wieder zur Tür. Es erschien eine dunkelhaarige Frau, die sich blonde Strähnen geleistet hatte, die darüber hinwegtäuschen sollten, dass sie die Zeit ihrer größten Schönheit gerade hinter sich gelassen hatte, nichtsdestoweniger eine reife Attraktivität ausstrahlte. Kleine und einige Falten um ihre Augen zeigten an, dass sie in anderen Momenten viel lachte. Sie hatte ihr Haar mit einem Reif zurückgesteckt und trug ein blaues Kostüm etwas ungelenk, als ob sie sich zu einem Anlass etwas mehr herausgeputzt hätte als üblich. Bevor sie ihm der Bruder als solche vorstellte, wusste Birne, dass er dessen deutsche Frau vor sich hatte. Er mochte sie.
Frau Kemal stand auf und machte ihr Platz.
»Sie sind Herr Birne?«
»Das bin ich, ja.«
»Nun, ich muss sagen, dass ich zunächst skeptisch war und abraten wollte, als mein Mann und meine Schwägerin mir sagten, dass sie Sie in die Angelegenheit hineinziehen wollten. Aber wenn ich Sie jetzt so vor mir sehe …«
Das war nichts als Hohn. Birne saß tropfnass in der Küche, man hatte ihn verprügelt, nur ein Stockwerk höher, auch das musste ihm noch anzusehen sein.
»Ich habe es gemacht, weil Frau Kemal mich überzeugen konnte, dass ihr Mann unschuldig ist. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.«
»Seien Sie sich da sicher, der Mann ist unschuldig, da erzählen wir Ihnen keine Geschichten, das können wir uns wirklich nicht leisten.«
Birne dachte, dass sie jetzt eine Deutsche aufgefahren hatten, damit alles glaubwürdiger rüberkam. Aber Birne hatte keine Lust mehr.
»Erzählen Sie«, gab er ihnen noch eine Chance.
»Nun, ich kann nicht viel erzählen, das würde uns hier auch nicht weiterhelfen. Glauben Sie mir einfach: Wir haben Feinde an ziemlich hoher Stelle, die uns was reinwürgen wollen. Deshalb ist der Mann meiner Schwägerin unter Mordverdacht eingesperrt. Deswegen will man ihm den Prozess machen. Aber er ist unschuldig.«
»Warum ist man da oben gegen Sie?«
»Das sind sehr private Gründe. Die kann ich Ihnen nicht verraten.«
»Gerade deshalb sollten Sie sie mir verraten.«
»Das geht Sie wirklich nichts an«, mischte sich der Bruder wieder ein.
»Wissen Sie was, dann geht mich die ganze Sache nichts mehr an. Suchen Sie sich einen anderen Idioten, ich bin aus der Sache draußen.« Birne war so wütend, dass er aufstand.
Die Braut des Bruders: »Sie sind wirklich ein Idiot, Sie sind genau so wie die.«
Frau Kemal: »Sie sind ein Nazi.«
Der Bruder: »Sie haben uns enttäuscht.«
Das war das Letzte, was Birne hörte. Er haute die Tür zu und lief in seine Wohnung, riss sich noch im Flur seine Kleider vom Leib und würde sich nun eine heiße Dusche schenken. Als er sich der Hose entledigte, fiel ihm der Schlüssel zur Wohnung der Zulauf auf den Badboden. Den hatten sie ihm auf dem Revier wiedergegeben und nicht mal wissen wollen, wofür der war. Deppen, dachte sich Birne. Und auch Kemals war er egal geworden, anscheinend. Nun hatte er ihn, und er beschloss, ihn mit einer Mischung aus Stolz und Trotz zu besitzen.
Er schmierte sich nach der heißen Dusche zwei Brote mit Nutella und legte sich in sein Bett, weil er Schmerzen in den Gliedern verspürte. Hatte er sich doch erkältet? Es war ein aufregender Tag gewesen. Kurz bevor er in den Schlaf fiel, überlegte er sich noch, ob er sich vor denen da unten jetzt fürchten sollte. Dann wurde er aber schläfrig und döste ein.
Birne schlief tief und lange, er träumte nicht. Um 8 Uhr des nächsten Tages öffnete er seine Augen und stellte fest, dass seine Nase nicht lief und sein Hals nicht kratzte: Er war nicht krank, er war gesund.
Er schwang sich auf, draußen hatte sich alles beruhigt, er holte sich Semmeln und fand auf dem Rückweg im Briefkasten seine Zeitung. Alles war in Ordnung. Im Briefkasten der alten Frau steckten die Allgäuer Zeitungen der vergangenen Tage und die heutige: er quoll über. Birne widerstand der Versuchung nicht. Offensichtlich kümmerte sich niemand darum. Der Zeitungsausträger musste sich ärgern, der blöde Bernd sollte das ausleeren. Er tat das nicht. Birne übernahm das jetzt, er hatte sich das verdient.
Er frühstückte intensiv und warf sich danach auf das Sofa, um alles in seiner Zeitung zu studieren, was ihn interessierte, und dann nahm er sich die der Toten vor und das konnte ruhig bis 18 Uhr dauern. Mehr brauchte an diesem Tag nicht passieren.
Nix ging schief, nix fiel ihm aus der Hand, er hatte sein Leben im Griff. Er blätterte auf seinem Sofa, las zudem noch Dinge, die ihn nicht interessierten, und fand die Welt so, wie sie ihn an diesem Samstagvormittag behandelte, in Ordnung.
Fast hatte er sein großes Thema der vergangenen Tage vergessen, als er im Bayern-Teil, den er nicht verschmähte, sondern sich als Schmankerl aufgehoben hatte, unter der Überschrift »Mord in Rekordzeit aufgeklärt« fett Kempten las. Sein Fall! Seine Zeitung.
Da stand:
Er sieht nicht aus, wie man sich die Helden aus dem Fernseh-Tatort vorstellt, und er möchte auch nicht, dass man ihn als einen solchen anspricht: Bruno Abraham ist Kriminalkommissar in Kempten und hat etwas zustande gebracht, wovon die Hercule Poirots, Columbos und Miroslav Nemec‘ dieser Welt träumen – er hat einen Mord innerhalb von einer Woche aufgeklärt. Er ließ dem Blut des Opfers kaum Zeit zu trocknen.
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