Zusammengefasst: Das osteopathische Konzept stellt eine Art Landkarte zur Verfügung, mithilfe derer wir eine diagnostische und therapeutische Route ermitteln können. Dabei beziehen sich diese Prinzipien auf:
ein Verständnis der mechanischen Interaktionen innerhalb des körperlichen Rahmens;
eine Einschätzung, wie Funktion (physiologisch, emotional etc.) sich in der Struktur widerspiegelt;
eine Ahnung des interaktiven Prozesses, der zum Teil neurologisch, zirkulatorisch und energetisch ist, einschließlich eines vielgestaltigen Informationsaustausches. Dazu kommt die Fähigkeit dies in Bezug auf Mobilität und Motilität44 zu beobachten, zu palpieren und zu interpretieren.
Nun, natürlich ist Osteopathie nicht die erste Disziplin, die die Bedeutung von Flüssigkeiten und Informationsdynamik für die Gesundheit hervorhebt, und sie wird sicherlich auch nicht die letzte bleiben. Was sie jedoch tat und immer noch tut, ist zu betonen, wie häufig und relativ subtil Störungen und Veränderungen dieser zu einer Dysfunktion, zu Krankheit oder Pathologie führen kann, insofern nicht gehandelt wird (sei es nun durch Kompensationsprozesse, Anpassung oder Widerstand, oder durch therapeutische Hilfe). Zudem betont sie in diesem Zusammenhang die Rolle der Körperstruktur und seine diesbezüglich integrierten Handlungen.
Nach nahezu einem Jahrhundert ‚chemischer’ Medizin, in dem Forschung und Praxis unsere Gesellschaft im Bereich der Krankenpflege revolutioniert haben, erscheinen Stills Gedanken über Medikamente für manch einen fehl am Platz. Er wurde niemals müde zu betonen, dass der Körper ein Meister der chemischen Selbstregulation sei, die einem Prozess struktureller Anpassung und Reintegration automatisch folgen werde. Dieses Prinzip wurde in der Osteopathie immer sehr hoch gehalten. Man sollte jedoch vorsichtig sein, wenn man en gros die Nutzung von Medikamenten ablehnt, die enorme Vorteile für die Patienten gebracht haben.45
Gleichzeitig bietet die Vorstellung der Effektivität einer intrinsischen biochemischen Selbstregulation ein großes Gegengewicht zu dem übermäßigen Gebrauch von Medikamenten und den damit verbundenen, leider allzu häufig auftretenden iatrogenen Spätschäden. Stills Rede von Gottes eigener Apotheke und die Art und Weise, wie ihr Nutzen durch eine vollkommene Integration mithilfe der Osteopathie wieder aktiviert werden kann, bleibt so wichtig wie eh und je – was nicht heißt, dass man die umfassenden Leistungen der modernen Pharmakologie nicht anerkennen sollte, insbesondere wenn man sie mit der vergleichsweise naiven Medizin der damaligen Zeit vergleicht. Stills Vermächtnis war es, zumindest für Osteopathen, einen weniger invasiven Ansatz in Bezug auf eine chemische Regulation zu wählen, d. h. eine Stimulation der Selbstregulationsmechanismen durch den Einfluss einer strukturellen Reintegration und die damit verbundenen kraftvollen konstitutionellen Wirkungen. Diese Position beleuchtet zugleich eine der bedeutendsten Unterschiede zwischen allopathischem und osteopathischem Denken.
Mehr über Struktur-Funktion-Zusammenhänge
Als nächstes wollen wir einige dieser ominösen Struktur-Funktion-Zusammenhänge etwas genauer betrachten. Damit verbunden ist ein derartig natürlich anmutendes Modell, dass ich mich oft darüber wundere, warum das osteopathische Konzept so hart um Anerkennung kämpfen musste. Einige Aspekte werden durch bemerkenswerte Forschungsergebnisse in jenen Disziplinen unterstützt, die für die Orthodoxie momentan eine große Herausforderung darstellen. Aber wir kommen etwas vom Pfad ab.
Blutversorgung
Stills Leitprinzip, die Rolle der Arterie ist absolut , ist gewiss etwas übertrieben,46 jedoch ist seine Bedeutung für jedermann nachzuvollziehen. Es benennt ganz klar die Tatsache, dass Gesundheit, gesundes Gewebe und normale Funktion auf einer relativ effizienten Blutversorgung beruhen.
Blut transportiert Nahrung und Sauerstoff zu den Zellen und ist das Hilfsmittel, mit dem Abfall- und Nebenprodukte des Stoffwechsels zur Leber und zu den Nieren transportiert werden. Galen (ca. 130 – 200), einer der bedeutendsten Ärzte der Antike, hatte bewiesen, dass die Arterien Blut und nicht Luft transportieren. Allerdings sollte es bis 1628 dauern, ehe der englische Arzt William Harvey (1578 – 1657) die Dynamiken des Blutflusses mit dem Herzen als zentraler Pumpe beschrieb und somit ein korrektes Verständnis des Kreislaufsystems ermöglichte. In jedem menschlichen Körper umfasst dieses ca. 160.000 Kilometer an Blutgefäßen und etwa fünf Billionen rote Blutkörperchen, von denen täglich 25.000.000 durch das Knochenmark erneuert werden; das sind etwa 300 pro Sekunde.
Noch wichtiger für uns ist aber die Tatsache, dass der ungehinderte arterielle Arbeitsablauf durch eine strukturelle Fehlfunktion beeinflusst werden kann. Es ist zwar leicht nachvollziehbar, dass Veränderungen und Anomalien, Deformitäten und Traumata möglicherweise eine schädliche Wirkung auf die Zirkulation haben, aber die Osteopathie geht diesbezüglich noch viel weiter, indem sie sagt, dass relativ kleine Veränderungen in der Bewegungsfähigkeit des Gewebes, von knöchernen intervertebralen Bewegungsanomalien bis hin zu feinsten oszillierenden Veränderungen im Bindegewebe (und sogar noch feinere als diese), Flüssigkeitsdynamiken und Druckgradienten verändern und damit physiologisch höchst relevant werden können. Die Effekte können sehr lokal sein, z. B. eine direkte Verengung eines Blutgefäßes bzw. eine entzündliche Reaktion, oder systemisch, so dass etwa Veränderungen der Drücke in einzelnen Körperhöhlen in Veränderungen des Blutdrucks resultieren. Sie können im Zusammenhang mit lokalen Gewebereparationen bzw. -heilungen stehen, oder sie haben eine mehr allgemeinere Bedeutung, wie etwa bei der Blutversorgung lebenswichtiger Organe. Es geht hier nicht um die Offenbarung der Bedeutung des Blutes, sondern lediglich um die Behauptung, dass strukturelle Funktionen Mechanismen seiner Anlieferung, seines Transportes, seiner Verfügbarkeit und sogar seiner Qualität beeinflussen.
Venöse und lymphatische Drainage
Es gibt unzählige Beispiele für pathophysiologische Einflüsse auf lokale wie systemische Stauungen im venösen und lymphatischen System, von lokalen Schwellungen und Ödemen in den Gliedmaßen bis hin zu Stauungen im renalen oder kardiopulmonalen Netzwerk. Solche Einflüsse können sehr ernst, sogar fatal sein, andere sind lästig und viele werden über Jahre hinweg so lange gar nicht erst bemerkt, bis der Einfluss einer solchen Stase und passiven Hyperämie langsam zur Herabsetzung der wesentlichen Funktion eines Organs führt. Es kann zu Zystenbildung oder Zelluntergang kommen. Das Fibrom in einer Gebärmutter ist beispielsweise eine von tausenden dieser möglichen Konsequenzen. Eine gute arterielle Blutversorgung, ergänzt durch eine gesunde venöse und lymphatische Drainage, sorgt für jene effiziente Flüssigkeitsdynamik, auf welcher Gesundheit beruht.
Und noch einmal, es ist die Rolle, die dies in der Gesamtheit der Körperfunktionen einnimmt, alle bisher erwähnten Systeme als ein integriertes organisches Ganzes eingeschlossen, zusammen mit dem Netzwerk oder der Matrix, die das neuroendokrine, muskuloskelettale und Bindegewebssystem umfassen. Große wie kleine mechanische Einflüsse, die strukturelle Balance und die Ausdrucksmuster sowie die Beschaffenheit des Körpers, zusammen mit der Spannung und den Bewegungseigenschaften aller strukturellen Elemente, haben einen großen Einfluss auf die für unsere Gesundheit so essenzielle Flüssigkeitsdynamik.
Wasser
Den meisten Menschen ist klar, dass Wasser für das Leben essenziell ist. Viele würden weite Reisen, ohne einen eigenen Vorrat an Trinkwasser mitzunehmen, nicht unternehmen. Trotzdem sind die außergewöhnlichen Eigenschaften dieser Substanz, die etwa 75 – 85 Prozent von uns ausmacht, nur wenigen bekannt. Wasser löscht und schmiert nicht nur. Wasser reagiert, verhält sich und kommuniziert. Aufgrund des Musters seiner Wasserstoffbindung und vielen anderen besonderen Eigenschaften besitzt es eine Molekularstruktur, die bestimmte Lösungen widerspiegelt und unzählige molekulare Reaktionen und Transaktionen im Körper vermittelt. Des Weiteren drückt sich sein inhärentes Molekularverhalten sowohl mechanisch wie auch elektrisch und auch chemisch aus und beeinflusst, übermittelt und überwacht die meisten, wenn nicht sogar sämtliche wesentlichen Körperfunktionen. Viele anerkennen die allgegenwärtige Natur des Wassers. Sein außergewöhnlicher Einflussbereich ist Ziel spezieller Studien, wohingegen seine Verbindung mit dem rhythmischen Ausdruck, basierend auf Gewebe- und Zelloszillationen, einen grundlegenden Bereich der osteopathischen Theorie und Praxis repräsentiert. Paul Lee untersucht dieses Phänomen auf wunderbare Art und Weise in seinem Buch Interface . In meinen Augen ist dieses Buch essenziell sowohl für Studenten wie auch Graduierte. In ihm bezieht sich Lee auf die Leben-fördernden Eigenschaften des Wassers durch seine verschiedenen außergewöhnlichen Qualitäten. Er zitiert Theodor Schwenk47, der die Qualitäten des Metabolismus, Empfindlichkeiten und Rhythmus des Wassers spezifiziert. Dr. Karl Maret48 äußert redegewandt in seinem Vorwort zu James Oschmans49 Energy Medicine in Therapeutics and Human Performance die mit Szent-Györgyis50 Auffassung verwandte Behauptung, dass die submolekulare oder elektronische Dimension – in der Biologie allgemein vernachlässigt – im Grunde auch allen anderen primären Bereichen der Biologie hinzugefügt werden müsse: dem Makroskopischen (Anatomie), dem Mikroskopischen (Zellen) und dem Molekularen (Proteine). Maret schreibt:
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