Wie kommt es nun zu einem Zusammenbruch in diesen Bereichen? Welche darin verwickelten Prozesse liegen ihm zugrunde? Nun, ich denke, das Folgende kann als kleine Anleitung gesehen werden. Es fasst sämtliche Dynamiken zusammen, auf die sich eine gute Osteopathie gründet; einschließlich aller Parameter, die sich in einem permanenten Zustand reziproker Funktion befinden, ein Zustand, in den sich ein osteopathischer Behandler konstant einschwingt.
1 „Das Gesetz der Arterie ist absolut.“ 34 Die Betonung liegt hier auf der Bedeutung einer gesunden Blutversorgung für die Gesundheit und Vitalität aller Organe, Gewebe und Strukturen plus dem Einfluss, den eine veränderte strukturelle Funktion darauf haben kann. Einbezogen in dieses Prinzip ist die Rolle des Kreislaufsystems als eines Kanals zur Versorgung mit Nährstoffen, nebst aufeinander abgestimmter und selbstregulierender biochemischer Elemente, die die meisten Organismen selbst zu produzieren in der Lage sind.
2 Eine von allen Geweben ausgehende effektive und freigängige venöse und lymphatische Drainage und die Vermeidung stauender hyperämischer Zustände plus den beherrschenden Einfluss anomaler muskuloskelettaler Strukturen und Bindegewebe auf diese.
3 Gesunde und integrierte muskuloskelettale und Bindegewebssysteme, die über stimmige gewebliche Beschaffenheit und Tonus verfügen, fein abgestimmte und verbreitete Mobilität im gesamten Körper, einschließlich einer guten funktionellen Integration in Körperstruktur und -gerü̈st. Später mehr darüber.
4 Eine gesunde Körperhaltung in den üblichen Begriffen wie Lokomotion, allgemeine Beweglichkeit und Haltung und ihr Einfluss auf das oben Genannte (sowie auf das was noch folgt). Beispielsweise ist die Haltung signifikant für den Aufbau korrekter intrathorakaler und intraabdominaler Drücke und ihren Einfluss auf die Blutzirkulation und die Atmung. Des Weiteren drücken wir über sie mittels unserer primären Lebensmaschine 35 unsere Beziehung zur Außenwelt aus, häufig ein Spiegel unserer Persönlichkeit und unseres Charakters.
5 Das tiefgreifende Wechselspiel zwischen einer guten strukturellen Funktion und dem Einsatz des zentralen und autonomen Nervensystems: Eine muskuloskelettale Funktion, die sich in gesunder Beweglichkeit spiegelt, ist mit einer gesunden integrierten Funktion innerhalb des Rückenmarks und einer Unzahl an Reflexmustern verflochten. Eine umfassendere Ausführung hierzu folgt weiter unten. Für viele repräsentierte dieses Gebiet den Schlüssel zu ihrem Verständnis der strukturellen Medizin. Genauso wie die Vorstellung, dass eine gestörte spinale Mechanik zu einem neuronal bedingten somatischen Zusammenbruch führt und in einer anomalen Physiologie resultiert. Dies war traditionell die kühne Behauptung der Chiropraktiker: ein weiterer Berufsstand, dessen Lehren ebenfalls Opfer einer eher zu stark vereinfachten Interpretation wurden. Etwa wurde behauptet, dass fehlgesteuerte spinale Repräsentationsorte in der Peripherie sich zwingend in der Fehlposition eines Wirbelkörpers (Subluxation) widerspiegelten, welcher wiederum zur Kompression von Nerven führe und Fehlfunktionen der Körperphysiologie bedinge: eine drastische, simple und etwas inkorrekte Repräsentation des chiropraktischen Credos. Es ist sehr interessant, dass viele der frühen Osteopathen ihre Ideen auf dieses ebenso simple wie unplausible Modell stützten und viele Patienten damit verprellten. Auch wenn es einfach zu verstehen und zu vermitteln ist, so ist es dennoch zum größten Teil falsch. Später werden wir uns die verbesserte Version dieses Konzeptes ansehen.
6 Die strukturelle Integrität des Körpers, in dem die strukturelle Funktion des gesamten Körpers in Wechselwirkung steht: Struktur beeinflusst Struktur. Dies trifft zu, da unterschiedliche Aspekte des strukturellen Systems bzw. unterschiedliche Gewebe auf außergewöhnliche Art und Weise miteinander kommunizieren. Antworten Körperstrukturen auf veränderte Belastungen und Spannungsmuster und passen sie sich diesen an, können komplexe Kompensationsmuster entstehen. Die Systeme der spinalen Mechanik sind in diesem Zusammenhang seit jeher Grundlagen in der Lehre der Osteopathie, von Littlejohn über Fryette36, Hall37 und Wernham, bis hin zum Tensegrity-Modell38 (Buckminster Fuller, Donald Ingber, Stephen Levine) mit seiner Bedeutung für das Bindegewebe und den unterschiedlichen Theorien zur Biotypologie einschließlich ihrer Perspektiven in Bezug auf Diagnostik und Behandlung. Später mehr darüber.
7 Das Bindegewebe des Körpers stellt eine Funktionseinheit dar, eine Matrix, die den mechanischen Tensegrity-Gesetzen unterliegt, und repräsentiert damit die unmittelbarste und bedeutendste Schnittstelle zwischen Struktur und Funktion, bis hinunter zur Zellebene. Das ist von zentraler Bedeutung; es bestätigt nicht nur Stills Betonung der Faszien und ihre primäre Unterstützung für eine gesunde Physiologie – „Durch ihre Aktion leben wir, durch ihr Versagen sterben wir.“ 39 –, sondern bezeichnet zudem jenen Bereich innerhalb unseres Studiengebietes, welcher sich im Wesentlichen auf die neuesten Forschungsarbeiten in der Biologie stützt. Dabei handelt es sich um das Konzept des Körpers als einer Matrix bioelektrischer Signale, die somit ein Kommunikationsnetzwerk zur Verfügung stellt, welches das Nerven- und das Kreislaufsystem ergänzt. Dies ermöglicht Informationsaustausch und Transport von jedem Körperteil aus in den gesamten Organismus aufgrund von Quantenmechanik, Piezoelektrik und der Halbleitereigenschaften des lebendigen Gewebes, der Kollagene und des Wassers.40
8 Die energetische Matrix, die all diese Dinge widerspiegelt, neben ihrer Rolle als Behältnis für das mental-emotionale und subtilere Material im Bewussten und Unbewussten des Patienten und sogar seine spirituelle Ganzheit. (Einige empfinden das letztere vielleicht als etwas heikel; lassen wir es vorerst aber einmal einfach so stehen.) Die Kapazität des Körpers Aspekte des Seins des Patienten, seine Beziehung zu sich selbst und zu seiner Welt zu speichern, ist wahrlich außergewöhnlich, angefangen von der allgemein sichtbaren, introvertierten oder arrogant-extrovertierten Haltung und den damit verbundenen Bewegungsmustern, bis hin zur Speicherung emotionaler (und physischer) Traumata. Freud selbst tauchte in Neurologie und Physiologie ein und behauptete, „Das Ich ist zuallererst einmal ein Körper-Ich“. Auch wenn wir dazu neigen diesen Aspekt der Beobachtung zu nutzen und die Wahrnehmung dessen speziell in unserer Praxis zu verfeinern, so ist er natürlich Bestandteil des gesamten Alltags. Wir reagieren auf alle Arten von Hinweisen in der Interaktion mit anderen; unbewusst registrieren wir ihre Körpersprache, ihr Gebaren, sogar die Energie, die sie auf uns übertragen (oder uns abziehen). Wir wissen augenblicklich, ob wir jemanden mögen, uns zu jemandem hingezogen fühlen oder ob wir ihn als auslaugend oder abstoßend empfinden. Energetischer Austausch zwischen den Menschen ist ein Phänomen, dessen wir uns alle bewusst sind. Die Möglichkeiten dieses Potential in seiner komplexen Form zu verstehen und zu erforschen ist ein verführerischer Teil des Dialogs bzw. ‚Tanzes’ zwischen Patient und Behandler.
9 Rhythmik: ein Konzept mit besonderer Bedeutung für Osteopathen, auch wenn es oftmals sehr unterschiedlich interpretiert wird. Sie ist offensichtlich in guten Behandlungen, in gesundem Gewebe und in der tidenartigen Fluktuation der zerebrospinalen und extrazellulären Flüssigkeiten. Sie repräsentiert einen essenziellen Teil im kranialen Konzept, welches das Lebensprinzip und dessen Übertragung in die gesunden Gewebe mit umfasst und in Sutherlands Formulierung Atem des Lebens 41 seinen Ausdruck findet. Herbert Fröhlich schreibt über die Eigenschaft biologischer Systeme sich in kohärenter Oszillation auszudrücken42 und Alfred Pischinger spricht von der inhärenten Fähigkeit der Bindegewebsmatrix zur rhythmischen Oszillation.43 Auf unterschiedliche Art und Weise ist eine gute osteopathische Behandlung in der Lage Rhythmik in das lebendige Gewebe zu übertragen oder dieses positiv zu beeinflussen. Auch hierzu später mehr.
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