Die Frau ist weg.
Wie wahr.
RONJA
Meine Freundin Schneewittchen ist leider gestorben, und mein Freund Braunbär musste in den Zoo.
Als wir durchs Stiegenhaus gehen, wird gerade feucht aufgewischt:
RONJA
Es ist nass, der Mann beest!
Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass ich glaube, meine Kinder seien besonders kreativ, oder so. Ich glaube, ALLE Kinder sind so, und wir sollten einfach genauer hinschauen und hinhören und uns an ihrer Weisheit erfreuen.
RONJA
Der Papa hat einen Penis, die Mama eine Scheide und die Ronja eine Windel.
MÄRZ 2009
Ich habe einen starken Schnupfen. Wir gehen die Straße entlang, du hältst meine Hand. Achtlos spucke ich Rotz auf die Straße. Du sagst nur:
RONJA
Bitte mich nicht anspeiben, Papa.
In diesem Satz steckt dein Wesen. Achtsam, emphatisch, und so humorvoll.
APRIL 2009
RONJA
Ist es schon dunkel?
MANUEL
Ja.
RONJA
Wahnsinn, die Mama ist im Dunklen draußen!
MAI 2009
Wir waren heute bei der Oma. Auf der Autobahn überholte uns ein Rettungswagen mit Blaulicht. Besonnen siehst du aus dem Fenster und sagst zu dir selbst:
RONJA
Jetzt ist schon wieder was passiert.
Später, am Gürtel blendet dich die Abendsonne.
RONJA
Obwohl wir keine Sonnenbrillen haben, scheint die Sonne!
Abends, kurz bevor du einschläfst, sagst du:
RONJA
Morgen werde ich in die Zeitung schauen, vielleicht ist was Interessantes drin, Kühe oder so.
RONJA
Ich werde schon noch größer. Aber wird die Welt auch noch größer? Ich glaube nicht. Afrika vielleicht.
Du beginnst zu realisieren, dass es den Tod gibt.
RONJA
Die Menschen, die ganz oben am Himmel sind, sind schon gestorben. Wenn sie sich nicht an den Wolken festhalten, fallen sie runter und werden wieder lebendig.
Ich war ein paar Tage drehen und versuche, mit dir jetzt wieder ins Gespräch zu kommen.
MANUEL
Ich habe dich vermisst!
RONJA
Ich dich eigentlich nicht.
MANUEL
–
RONJA
(überlegt) Ich habe eigentlich gar nicht an dich gedacht.
15. SEPTEMBER 2010
Wir hören Sergeant Pepper.
RONJA
Wie viele Beatles leben noch?
MANUEL
Zwei.
RONJA
Die anderen hatten ein kürzeres Leben. Wie heißen die, die noch leben?
MANUEL
Paul und Ringo.
RONJA
Ich will die mal treffen!
Ein Dialog, den ich aufgeschrieben habe, ohne Datum. Es ist aber auch egal, weil deine Worte sind zeitlos und wichtiger denn je.
MANUEL
Gibt es in deiner Kindergartengruppe eigentlich auch Flüchtlinge?
RONJA
Nein, nur Kinder.
Heute waren wir spazieren. Wir spielen Geburt und Spitalsaufenthalte nach. Manchmal reisen wir zum Nordpol. Du hast dein Notizbuch aufgeschlagen. Und schaust immer wieder nach, was wir als Nächstes tun müssen.
In der Zwischenzeit ist deine Schwester geboren.
8. OKTOBER 2013
Luise, du bist eine unglaubliche Person. Hast alle Menschen um dich herum im Griff. Wenn du gut drauf bist, lässt du deinen Charme spielen, und alles liegt dir zu Füßen. Wenn du nicht so gut drauf bist, kann es für alle Beteiligten ganz schön anstrengend sein. Was mich immer und immer wieder beeindruckt, ist die unbedingte Loyalität zu deiner Schwester (und umgekehrt). Vor ein paar Nächten konntest du sehr schlecht schlafen, und Stefanie musste immer und immer wieder antreten. Irgendwann hatte sie dich so weit, und ihr habt den Deal gemacht, dass ihr euch beim Frühstück wiederseht. Stefanie sagt im Gehen:
STEFANIE
Ich freu mich auf das Frühstück mit dir!
Du brüllst ihr nach:
LUISE
Und was ist mit der Ronja? Auf die freust du dich nicht?
DEZEMBER 2013
LUISE
Ich habe eine gute Idee gefunden.
Jetzt will ich raus, die frische Luft schnappen.
LUISE
Ich habe Lulu ausgeschüttet.
LUISE
Wir könnten im Bett herumspazieren, bis der Sommer kommt.
Während deine Schwester immer alles mit uns besprechen wollte und will, entscheidest du praktisch autonom. Im Fasching warst du heuer als Klavier.
LUISE
Es gibt Kinder, die haben keinen Parmesan.
LUISE
Einmal noch schlafen, dann ist morgen.
OKTOBER 2014
LUISE
Ich liebe Superstars.
LUISE
Lorenz ist mein bester Freund.
STEFANIE
Und wer ist deine beste Freundin?
LUISE
Das bin ich selber.
FEBRUAR 2015
Tobsucht ist ein großes Thema. Jedes Anziehen ist ein Nervenzusammenbruch.
LUISE
Ich will, dass du mir nie wieder hilfst, bis ich sterbe.
Stefanie ist viel geduldiger als ich. Sie kann über Stunden alles vergessen und nur in die Kinderwelt eintauchen. Momentan ist sie aber wirklich mit ihrem Latein am Ende, so habe ich sie noch nie erlebt.
Aber sie versucht alles. Zum Beispiel zeichnet und schreibt sie mit dir zusammen Märchen:
LUISE
Es war einmal ein Blumenkind, das lebte mit seinem Opa und seiner Oma zusammen. Es hatte ein Pony, wo es älter wurde, konnte das Kind schon alleine hinfuhren. Dann wurde der Opa alt und stirbte. Die Prinzessin springt ins Bällebad, und die Oma und der Opa wachen beide wieder auf, sie haben nur so gespielt, dass sie gestorben sind. Und jetzt ist die Geschichte aus.
LISTE MIT MEINEN LUISE-LIEBLINGSZITATEN
1)Man kann sich die Mama, wenn sie gestorben ist ja aufheben.
2)Papa, du kriegst das Bild, wo ich mich am wenigsten bemüht habe.
3)Ich werde Künstlerin, aber pronto.
4)Ich interessiere mich überhaupt nicht für Fußball, aber ich schaue es, weil ich gerne fernschau’.
5)Essen Frösche Blumen?
6)Dass ich zaubern und fliegen kann, wünsche ich mir schon seit ich geboren bin.
7)Bitte lies’ noch eine Folge!
8)Ich bin froh, dass ich geboren bin.
Und mit diesem Vorlauf an Zitaten, an Subversion, an Anarchie will ich einen Sprung machen ins Jetzt. Die Aufzeichnungen sind rar geworden. Der Schulalltag hat euch im Griff, und das mag ein Grund sein, warum immer weniger Zitate von euch rausgeschleudert werden.
FREITAG, DER 13. MAI 2020
Ich sitze vor der Schule und warte auf dich. Ein Mädchen stürmt weinend aus dem Schulgebäude auf seine Mutter zu.
MÄDCHEN
Ich habe eine Drei in Mathe!
Ich mische mich ein:
MANUEL
Ich hatte nie eine Drei in Mathe.
Die Mutter des Mädchens erklärt mir, dass ihre Tochter tolle Geschichten schreibt, aber mit der Rechtschreibung Probleme hat.
Ich beobachte, dass Buben eine Drei meistens abfeiern und Mädchen eine solche oft als beschämend empfinden, und sehe das als nur ein Beispiel dafür, dass wir beim Thema Gleichstellung noch einiges zu tun haben. Lesen Sie dazu unbedingt Feministin sagt man nicht von Hanna Herbst. Wieder werde ich bei Peter Bichsel fündig, konkret in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen.
PETER BICHSEL
Rechtschreibung ist nichts anderes als ein Selektionsmittel, das auf Umwegen die notwendigen Analphabeten schafft. Das Ziel der Schule ist nicht Bildung, sondern Selektion.
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