Das Corona-Virus hat uns vielleicht das Gefühl des Mangels spüren lassen, aber in den meisten Leben hat sich trotzdem zu viel angesammelt. Der Alltag hat uns im Griff, die To-Do- und Selbstoptimierungslisten wuchern aus, und wir fühlen uns schlecht und schuldig. Die allergrößte Schwierigkeit an meinem Beruf ist, das Dazwischen zu gestalten. Auf die Bühne zu gehen oder vor eine Kamera zu treten, ist dagegen vergleichsweise gar nichts. Das ist klar, da fühle ich mich meistens sicher. Das Spiel ist ein freier Raum, die Bühne ist ein Sicherheitsort. Viel komplexer ist der Alltag. Wie gestalte ich den? Wie schaffen wir es, uns nicht ablenken zu lassen, uns nicht treiben zu lassen? Wobei natürlich das bewusste Treibenlassen, der Flow (mehr dazu siehe Kapitel 14und 15) etwas ganz anderes ist. Verzettelung macht den Menschen unglücklich, aggressiv, und zerfahren, wohingegen der Zustand des Flows, also die tiefe Konzentration auf eine Sache (sei es Briefschreiben oder Autoreparieren) ihn glücklich und zufrieden aus den Tiefen des Ichs auftauchen lässt – so etwa könnte man, wenn ich es richtig verstanden habe, eine Haupterkenntnis der Hirnforschung zusammenfassen. Nach einem 20-minütigen Waldspaziergang fühlt man sich zweifellos besser als nach einer Stunde in der Shoppingmall.
Gehen Sie zu Fuß! So oft und so weit wie möglich. Es ist immer besser, als es nicht zu tun. Gehen Sie spazieren, damit Sie nicht vergessen, dass es Vögel gibt!
Und trotzdem werden wir scheitern. Weil wir müssen. Wir, die versuchen Ordnung in das Chaos zu bringen, müssen scheitern. Aber vielleicht schaffen wir das in Würde und mit Eleganz. Das wäre doch das Ziel. Ich spiele gerne so Gedanken durch. Wie ging es den Menschen in den Verlagen, die Harry Potter abgelehnt hatten? Oder um es bildlicher zu machen: Im Juli 1954 begab es sich in den Sun Studios zu Memphis Tennessee, dass ein 19-jähriger Lastwagenfahrer namens Elvis Aaron Presley die ganze Weltgeschichte veränderte, indem er den Rock’n’Roll erfand. Der schüchterne junge Mann war ein Jahr zuvor in einem Aufnahmestudio in Sam Philipps gewesen, um ein Ständchen für seine Mutter aufzunehmen. Man nahm ihn in die Kartei auf, falls man in Zukunft mal einen Schnulzensänger brauche. Ist er immer noch in dieser Kartei vermerkt? Und konnte der Mann, der das entschied, danach einfach so weiterarbeiten?
LISTE DES SCHEITERNS
1)Man scheitert ja als Kind schon ständig. Ich habe lange geglaubt, mein Onkel ist Steuerberater. Stimmt aber nicht. Er ist Fahrlehrer.
2)Mein Freund Zebra erzählte mir, dass Slash von Guns’n’Roses so cool ist, dass er sogar in der Dusche raucht. Ich hab’s probiert …
3)Als ich mich das letzte Mal entspannt zurückgelehnt habe, saß ich auf einem Hocker.
4)Wer sich im Leben alle Türen offen hält, wird sein Leben auf dem Flur verbringen.
TOCOTRONIC – KAPITULATION
Und wenn du kurz davor bist
kurz vor dem Fall
und wenn du denkst
Fuck it all
wenn du nicht weißt
wie soll es weitergehen
Kapitulation
ohohoh Kapitulation.
Ich sitze mit einem Freund im Kaffeehaus und er sagt:
PETER
Schau der Angst doch einfach ins Gesicht.
Es geht letztlich um nichts.
Ich denke: Das würde ich gerne meinem jüngeren Ich sagen, das sich so viel aus der Meinung anderer gemacht hat, das sich leiten und lenken und verbiegen ließ aus Angst, nicht dazuzugehören. Soll ich es zumindest meinem 16-jährigen Ich 2.0 erklären, das zwei Türen weiter wohnt?
Alles tun, um es den anderen recht zu machen und aber trotzdem nicht dazugehören. So fühlte sich meine Jugend an. Ein Dilemma, eine Spirale.
Ist der ängstliche junge Mann plötzlich ein 40-jähriger Spießer geworden? Ich finde nicht, aber ich bin ständig mit diesem Bobo-Vorwurf konfrontiert. Lasset uns das also kurz abhandeln.
BOBOist ein Neologismus, Oxymoron und Akronym, das sich abgekürzt aus den Wörtern bourgeois und bohémien zusammensetzt. In Deutschland firmiert er unter Hipster. Der Begriff »Bobo« wurde durch das im Jahr 2000 erschienene populärwissenschaftliche Buch Bobos in Paradise von dem Kolumnisten der New York Times David Brooks geprägt, der sich selbst als Bobo bezeichnet. Er bezeichnet dementsprechend ursprünglich die US-amerikanische Oberschicht am Ende der 1990er-Jahre, die »Konservativen in Jeans« und »Kapitalisten der Gegenkultur«. Der Lebensstil der Bobos führte zusammen, was bis dahin als unvereinbar galt: Reichtum und Rebellion. Also die Ideale der Hippies kombiniert mit der Bequemlichkeit der Yuppies. Oder so ähnlich. Da Bobos oftmals über mehr Geld verfügen, weil sie in ihrem Irgendwas-mit-Medien-Beruf erfolgreich sind, oder einfach nur geerbt haben, trotzdem aber gerne lässig bleiben wollen und sich daher gerne in räudigen, aber doch hippen Grätzeln niederlassen, unterstellt man ihnen gerne, Zugpferde der Gentrifizierung zu sein. Die Wiener Künstlerin Andrea Maria Dusl verwendet hierfür die sehr treffenden Begriffe: Boboville und Bobostan . Und da ist sie wieder, die Ambivalenz der Dinge, die sich natürlich auch in Bobostan findet. BMW fahren und grün wählen, Refugees Welcome-T-Shirts tragen, während sie die Kinder in die katholische Privatschule bringen. Der deutsche Kabarettist Andreas Rebers singt dazu:
ANDREAS REBERS – AUF KAMELEN DURCH BERLIN
Kinder machen Kinderyoga
und sie ernähren sich gesund
und der Braten ist aus Soja
und die Salate sind so bunt
Die Mama kauft gern auf dem Markt ein
Das ist so kommunikativ
Der Papa darf hier nicht mehr stark sein
Der Papa der ist kreativ
Klischees von heut’ waren früher Utopien
Wir reiten auf Kamelen durch Berlin.
Stimmt alles! Man trifft sich, um sich gegenseitig mit seinen Kochkünsten zu beeindrucken und spielt um zwei Uhr früh dann betrunken Luftgitarre auf der Pfeffermühle. Revolution 2.0. Bobos halten sich für nonkonformistisch, mögen ihre innerhalb des Gürtels gelegene Dachterrassenwohnung, werfen regelmäßig voll Freude ihren Smoothiemaker an und geben ihrem Sauerteig Rufnamen. Sie genießen das Leben und haben ein eigenes Verhältnis zum Konsum, sie kaufen in Bioläden, frequentieren Radwege und trinken Hugo sowie Aperol-Spritz statt Bier und G’spritzten. Sie lesen den Standard und den Falter, wählen vorzugsweise Grün, heißen Asylwerber willkommen, obwohl sie nur überschaubare Kontakte mit ihnen pflegen, sie sind aufseiten von Klimaschützern, nennen aber einen VW Touran oder ein anderes praktisches Auto mit viel Stauraum ihr Eigen, mit dem sie am Wochenende regelmäßig ins Waldviertel fahren. Ja, da sind Widersprüche. Trotzdem sind die meisten Bewohner von Bobostan, die ich kenne, eigentlich sehr freundlich, und Menschen, die offen sind für andere, egal welchen Geschlechts und welcher Herkunft. Sie sind mir nun einmal von Grund auf näher als die Allesverweigerer.
Eines verstehe ich nur nicht. Bobos werden oftmals auch Gutmenschen geheißen. Ich frage mich nur, wie muss eine Gesellschaft drauf sein, dass ein solches Wort zum Schimpfwort verkommen kann? Die Gebrüder Moped geben in ihrem Buch Heute gehört uns Österreich und morgen die ganze Scheibe eine Antwort:
GEBRÜDER MOPED
Insbesondere die jüngste Edition des Modells Gutmensch kennt in ihrer Umsetzung der pädagogischen Gehirnwäsche kein Erbarmen. Der Hipster. Zweimal Muttermilch macchiato bitte! Hipster-Eltern sind die mit Abstand schlimmste Form der Spezies Gutmensch. Sie kutschieren ihren Sprössling (Geburtsgewicht 4000 Instagram) im Kinderwagen aus Olivenholz zur Sojamilchtaufe. Dem Kleinen werden die Milchzähne gezogen. Wir sind schließlich vegan. Hipster erziehen ihre Kinder hartnäckig zu Toleranz und Multikulturalität. Sie reisen liebend gerne in entlegene Regionen, um dort fremde ihnen nicht vertraute Kulturen kennenzulernen. Der alljährliche Ausflug in den Wiener Gemeindebau.
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