Wieder denke ich an mein 16-jähriges Ich. Nimm das alles nicht so ernst, will ich ihm gerne zurufen. Das was wir sind, wird nie zu wenig sein haben wir damals mit Mondscheiner gesungen. Es war mehr eine Hoffnungsformel für uns selbst, und die Behauptung, diesen Beruf machen zu können, als eine Parole. Und einen Wimpernschlag später findet man sich plötzlich wieder mit Kindern und Hund, und die Leute sagen nicht mehr verächtlich »schau, ein Punk«, sondern »schau, ein Bobo«.
Mein 16-jähriges Ich hat seine T-Shirts abgenommen. Ich mache mir einen Espresso mit meiner super Maschine und lege wieder einmal Nevermind auf. Natürlich auf Vinyl. Kurt Cobain konnte nicht mehr zum Bobo werden. Er hat sich mit 27 Jahren erschossen. Die Musik hat nichts von ihrer Dringlichkeit verloren. Ich drehe den Volumenregler auf Maximum. Plötzlich läutet es an der Tür. Sie stellt sich höflich vor. Ihr Name ist Polly. Ich gratuliere zu ihren T-Shirts.
POLLY
Die gehörten meinem Vater. Ich verwende sie als Schlafleiberl.
Sie bittet mich, leiser zu drehen, weil sie lernen muss. I promise you. I have been true singt Kurt gerade. Verwirrt notiere ich die Liste für den heutigen Tag.
AKTIVITÄTEN FÜR MENSCHEN, DIE EINMAL IDEALE HATTEN UND SICH MITTLERWEILE ABER NICHT MEHR ALLZU VIEL VOM LEBEN ERWARTEN
1)Minigolf spielen
2)Tretboot fahren
3)»Schnürlsamthose« googeln
4)Mit Jogginghose in die Kirche gehen
5)Nach Baden bei Wien ziehen
6)Den Saugroboter wöchentlich auf die neueste Software updaten
7)Die kalte Progression verstehen
8)Den Bahnhof von Laa an der Thaya für die Modelleisenbahn maßstabgetreu nachbauen
9)Während der Coronakrise sagen: »Es ist nur ein Raucherhusten.«
10)Während der Coronakrise »Dritte Kassa bitte!« rufen
11)Alkoholfreies Bier trinken
12)Den Brief von der Sozialversicherung für Selbständige öffnen 3
13)Ratgeber lesen
14)Ratgeber schreiben und dann sagen: »Es ist eh kein Ratgeber.«
2
IRGENDWAS KANN EIN JEDER
–
Von der Pflicht zur Schrulligkeit
CHRISTINE NÖSTLINGER
Freunde darf man nicht enttäuschen, und gute Freunde tauscht man auch nicht aus.
Ich wurde von einem sehr guten Freund einmal so sehr enttäuscht, dass es mich ziemlich aus der Kurve gehoben hat und ich dort lange liegen geblieben bin, unsicher, ob ich wieder aufstehen wollen würde. Zum Glück konnte ich es eines Tages, und plötzlich sah ich ganz genau, was Freunde für mich erfüllen müssen, um diesen Titel zu erwerben. Umgekehrt gilt das natürlich auch. Loyalität ist so ein Wort. Aber wenn diese voll erfüllt ist, ist das schon mehr als die halbe Miete.
Ich habe ein paar wenige sehr enge Freunde. Sie sind launisch, trinkfest, faul und ganz wunderbar. Ich möchte die Geschichten von dreien von ihnen erzählen. Der erste Freund ist Finne. Er hört auf den schönen Namen Juhani. Also genau genommen kommt nur seine Mutter aus Finnland, er ist in Wien geboren. Er spricht auch leider nur wenig finnisch. Aber ein bisschen was kann er. Kalsarikänt ist finnisch und heißt, sich alleine zu Hause in Unterhosen betrinken. Ich beneide die Finnen um dieses Vokabel. In Finnland gibt es auch keine Kilometer, sondern poronkusema. Das ist die Länge, die ein Rentier zurücklegt, ohne pinkeln zu müssen, und zu einem Arzt sagen sie Läakari. Klingt ein bisschen wie Yakari , die Serie vom kleinen Indianer, der mit den Tieren sprechen kann, und sehr entfernt wie Daktari , der Buschdoktor mit Clarence, dem schielenden Löwen – aber das ist eine andere Geschichte. Wenn Juhani sehr betrunken ist, kann er auch mit Tieren sprechen. Aber das streitet er am nächsten Tag dann gerne ab. Wir kennen einander schon seit dem Kindergarten. Wollen Sie wissen, wie man auf finnisch zählt? Yksi, kaksi, kolme heißt 1, 2, 3. Im Kindergarten fanden wir das urlustig. Heute, wenn wir ziemlich betrunken sind, übrigens auch noch.
Wenn von Finnland die Rede ist, darf natürlich Aki Kaurismäki nicht fehlen. Ich glaube, er hat die Entschleunigung erfunden und stellt uns mit seinen Filmen auf die Probe. Trotzdem sind die Filme keine Sekunde langweilig, sondern poetisch und hochkomisch. Juhani hat auch eine göttliche Langsamkeit. Er widmet sich den Dingen in einer Ruhe, die mir jedes Mal imponiert. Multitasking ist ihm fremd und ich glaube auch zuwider.
Jedenfalls heißt mein Freund mit Nachnamen Zebra, also so hieß er nicht immer. Sein Großvater hatte so geheißen, ließ den Namen aus Rücksicht auf seinen Sohn – Juhanis Vater – ändern, weil er Angst hatte, dass die Kinder den Vater meines Freundes in der Schule hänseln würden. Juhani ging vor Gericht und wurde in erster Instanz abgelehnt mit der Begründung: »Zebra ist ein in der Steppe lebendes Pferd und kein Name.« Der Richter hieß übrigens Fuchs. Juhani machte weiter. Fragen Sie jetzt nicht, warum er nichts anderes zu tun hat. Jedenfalls gab ihm das Höchstgericht recht. Das ist alles wahr. Kann man googeln. Zeitungen haben darüber berichtet und sogar in der TV-Sendung Willkommen Österreich machte sich Grissemann über meinen Freund lustig. Die Geschichte geht weiter, teilt sich jetzt aber in zwei Handlungsstränge. Juhani darf jetzt also Zebra heißen. Seine große Schwester ist logischerweise auch halbe Finnin, vor nicht allzu langer Zeit gebar sie eine Tochter und nannte sie Tiina. In Finnland schreibt man Tiina mit zwei ii. Der Vater des Kindes, auch an diesem Strang der Handlung ist alles wahr, geht zum Standesamt, um den Namen seiner Tochter eintragen zu lassen. Der Beamte reicht ihm die Geburtsurkunde und sagt:
BEAMTER
Den Rechtschreibfehler hob I eana aus’bessert.
VATER
Nein, das ist schon richtig, unsere Tochter hat einen finnischen Namen, da schreibt man das so.
BEAMTER
Na guat. Heutzutage kann man auch schon Zebra heißen.
Der Vater, lässig im Gehen:
VATER
Ja, das ist mein Schwager.
Ich frage mich manchmal, was ich an meinen Freunden so mag. Was sie für mich besonders macht, neben ihrer Loyalität und Hilfsbereitschaft. Wahrscheinlich, dass sie Schrullen sind. Sie sind so aus der Zeit gefallen, auch wenn sie versuchen, es nicht zu sein.
Wolfgang, der Wirt und älteste im Bunde (wir nennen ihn zärtlich »Opa«), feierte einen runden Geburtstag. Er hatte eine kleine Anzahl von Menschen um sich versammelt. Zu späterer Stunde nahmen wir gemeinsam noch eine weiße Korrektur an der Bar zu uns. (Die weiße Korrektur ist das Pendant zum Reparaturseidel. Man trinkt sie allerdings noch vor dem Schlafengehen. Nachdem die meisten Gäste gegangen sind, alle ihr »Menü« hatten – einschließlich Espresso und Averna, möglichst in einem tiefgekühlten Glas serviert – eine sizilianische Tradition, die wir übernommen haben –, und die Küche tipptopp wiederhergestellt ist, dann ist es Zeit für die weiße Korrektur. Ein allerletztes Glas Weißwein im kleinsten Kreis.) Wir waren also im Begriff, uns über die weiße Korrektur herzumachen. Wolfgang blickte in die Runde und stellte zufrieden fest:
WOLFGANG, DER WIRT
Kein einziger Normaler dabei.
Das Wort Schrulle ist längst nicht mehr wirklich gebräuchlich, und dennoch ist es präzise. Heute würde man wahrscheinlich Nerd oder Freak sagen. Da gibt es Ähnlichkeiten. Aber die Schrulle ist immer eine Schrulle, auch wenn sie nicht beobachtet wird. Das ist ein entscheidender Unterschied. Wolfgang, der Wirt, ist ein phänomenaler Koch. Wenn Jamie Oliver ihn kennen würde, würde er ständig Wolfgangs Rezepte in seinen Büchern verbraten. Wolfgang ist aber als Schrulle auch seiner Schrulligkeit verpflichtet und so finde ich in einem seiner Lieblingsrezepte, Polpette di Sarde, eine handgeschriebene Notiz hinzugefügt: »Pro Bällchen, zwei Rosinen und zwei Pinienkerne.« Auf seine Kochkunst angesprochen pflegt Wolfgang übrigens zu sagen:
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