Er selbst nun trug einen schwarzen Anzug mit ebenso schwarzer Krawatte. Tagesuniform. Doch ach, herrje, was war denn das? Erst jetzt bemerkte er den kleinen Kaffeefleck am linken Revers. Verflixt und zugenäht, entfuhr es ihm in Gedanken während er darüber rätselte und sich gleichsam zu ärgern begann, wie er dieses kleine Odium hatte übersehen können.
Der Pfarrer, ein untersetzter, gutmütig blickender Mann fortgeschrittenen Alters, hatte gerade noch gesprochen, dabei immer wieder über seinen graumelierten Vollbart gestrichen, und anschließend hatte sie alle gemeinsam „So nimm denn meine Hände“, gesungen. Nun war sein Name genannt worden, und Richard genannt Rick Pfeffer stand auf, straffte sein Jackett und ging gemessenen Schrittes an das Katheder, welches dem fein gearbeiteten Eichensarg zur Seite gestellt worden war. Er legt sein Skript darauf, spürte die auf ihn gerichteten Blicke und Erwartungen, sah auf und begann zu sprechen:
„Ich kannte Joseph Rebschläger nicht!“
Er ließ seine Worte einige Sekunden lang wirken und setzte dabei einen gestochenen Blick auf, den er zwischen den Trauernden in der Kapelle sprungwechseln ließ. Er wartete noch kurz, bevor er fortfuhr.
„Ja, ich kannte Joseph Rebschläger nicht, und doch weiß ich mittlerweile so viel über ihn.“ Er blickte kurz aber theatralisch den Sarg an und lächelte flüchtig nickend, so als wolle er den Verstorbenen nun zum ersten und letzten Mal grüßen.
„Denn sehen wir uns einander an! So viele Menschen sind heute hier versammelt, um sich von ihm zu verabschieden. Um ihm Lebewohl! zu sagen. Freunde, Bekannte, Verwandte und natürlich seine liebe Familie, der mein ganzes Mitgefühl und mein aufrichtiges Beileid gilt.“ Er sah zu der weinenden Witwe hinüber und machte eine betroffene Geste. „So viele Augen, deren Tränen sich heute wohl nicht zählen lassen. Und so viele Erinnerungen, die das Leben von Joseph Rebschläger bei allen hier hinterlassen hat, dass es nicht genügend Tinte auf dieser Welt gibt, um sie alle aufzuschreiben.“ Nicken bei einigen Männern. Eine Frau schluchzte und Rick Pfeffer verbuchte dies als einen ersten Erfolg. Vielleicht fing sie ja gleich an zu heulen. Das wäre der Ritterschlag. Hatte seine Stimme zuvor noch ein leichtes Vibrato gehabt, wurde er nun zusehends sicherer. Er beschloss, jetzt in die erste Plural zu wechseln.
„Ein Schmetterling kann einen Orkan auslösen, heißt es, und ebenso hat das Leben von Joseph Rebschläger bei uns allen etwas hinterlassen, ist dadurch größer geworden und bedeutungsvoller als es ohnehin immer gewesen ist. Wir alle aber, waren ein Teil seines Lebens, und wir alle wissen, dass er ein Teil des unsrigen bleiben wird. Für immer. Wir werden von ihm erzählen, werden seine Fotos betrachten, werden uns an ihn erinnern und an das, was wir mit ihm teilten. Aber er war nicht nur ein Freund. Im Beruf war er erfolgreich, ja das lässt sich sagen. Was aber unser Joseph Rebschläger nach einem Menschenleben hinterlässt, ist mehr, als das, wofür andere wahrscheinlich die sieben Leben einer Katze bräuchten. Mag sein Betrieb auch klein sein, er hat ihn Kraft seiner Hände aufgebaut, ihn auch durch schwierige Zeiten gelenkt und nunmehr an seinen ältesten Sohn Walter übergeben.“ Er deutete auf den jungenhaften Mann in der ersten Reihe. „Aber was ihn vor allem auszeichnete war seine Menschlichkeit. Entlassungen hat es bei ihm nicht gegeben, niemals. Und erinnert sich nicht der ein oder andere an den unbekannten Weihnachtsmann, der auf einmal vor der Tür stand und Geschenke reichte, als das Geld auch mal knapp und die Not groß war?“ Die, die es wussten nickten, einer sagte leise „Jawohl“, und Pfeffer machte erneut eine kleine Pause. Wieder Schluchzen, diesmal schon mehr, deutlicher, und aus den Augen der meisten sprach nun erkennende Zustimmung. Er hatte sie. Jetzt hatte er sie alle. Er spürte die Erleichterung und war nun fast beschwingt.
„Und seine Familie, die er so sehr liebte – keiner soll sagen, er hätte sich nicht gekümmert. Joseph Rebschläger war ein liebender Ehemann, ein gütiger Vater und ein aufopferungsvolles Familienoberhaupt. Es zerreißt mir das Herz in der Brust, wenn ich Sie nun hier ansehe“, er blickte ein wenig übertrieben zu der Witwe und da plötzlich – Jawollja! Sie weinte große Kullertränen! Volltreffer! Besser geht’s nicht. Jetzt nur nicht nachlassen! „Wenn ich Sie ansehe und nicht einmal annähernd Ihren Verlust ermessen kann. Und doch weiß ich eins: so wie ich Ihn kenne, wird er von da, wo er jetzt ist, weiter über Sie wachen und seine Hand schützend über Sie halten. Es mag Sie, es mag uns alle nicht trösten, darum zu wissen, denn für uns ist er fort. Doch lebt er fort, lebt in allem, was uns umgibt weiter. In Seinen Kindern, in seinem Schaffen, in all unseren gemeinsamen Erinnerungen, und wir dürfen nie aufhören, sie dem Vergessen zu entreißen. Nein, ich kannte unseren Joseph nicht. Aber wenn ich heute einen Wunsch frei hätte, dann wünschte ich mir, dass ich ein bisschen so sein könnte wie er. Dass wir alle ein bisschen so sein könnten wie Joseph Rebschläger.“
Er blickte nach unten, strich sich eine Träne aus dem Auge, die gar nicht dort war und ließ wiederum das Gesprochene wirken. Er hatte sie tatsächlich erreicht. So viele Tage hatte er sich auf diesen Moment vorbereitet, so lange an seiner Rede gefeilt, so oft vor dem Spiegel geübt, aber dennoch war ihm beim Anblick der vielen in Trauer aufgelösten Menschen beinahe schlecht vor Angst geworden. Nun jedoch spürte er auf einmal wieder dieses triumphierende Gefühl in sich, es geschafft zu haben, dieses Hochgefühl der Freude über seine Arbeit, dass er seit seinen Tagen beim Weser-Land-Blatt so schmerzlich vermisst hatte. Darüber hinaus gab es ja schließlich auch noch Geld und zwar keinen Pappenstiel, wie Pfeffer erstaunt hatte feststellen müssen, als er das erste Kuvert erhalten hatte.
Er musste plötzlich darüber nachdenken, welch absurde Windungen das Leben doch zu nehmen pflegte. Immer dann, wenn man am wenigsten damit rechnete. Das Schicksal ist eben ein wirrer Stratege, dachte er sich und musste unwillkürlich an jenen Augenblick vor nun gut drei Wochen denken, als der Platz ihm gegenüber im Sattelschlepper auf einmal von einem unbekannten Fremden besetzt worden war. Hatte er ihn eigentlich begrüßt? Hatte er ihm einen guten Abend gewünscht oder ihm ein eher gängiges Moin über den Tisch geworfen? Er konnte sich nicht mehr genau darauf besinnen. Das erste, woran er sich in der Rückschau erinnerte, war jener Satz, den er Zeit seines Lebens nicht mehr vergessen sollte.
III.
„Ich bin vom Bundesnachrichtendienst“, hatte der Unbekannte gesagt. Und er sagte es so ernst und bestimmt, dass Richard genannt Rick Pfeffer sich an seinem tiefen und sonst so geübten Zug Pils verschluckte und laut prustete.
„Wollen Sie mich verscheißern, oder was? Sie sind doch nicht vom BND!“ Pfeffer sagte es mit aller Strenge, um sich seine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Innerlich jedoch rasten seine Gedanken. Hatte er jetzt ein Problem? Was konnten die von ihm wollen? Hatte er mit irgendwas richtigen Mist gebaut? Musste er ins Gefängnis? Ohgottohgottohgott! Bloß nicht ins Gefängnis.
„Nein, das will ich nicht, Herr Pfeffer. Ich bin Oberleutnant Hans Müller, und ich arbeite für den Auslandsgeheimdienst der Bundesrepublik Deutschland. Und bevor Sie fragen: Nein, natürlich ist das nicht mein richtiger Name.“
„Müller also“, sagte Pfeffer, „Haben Sie irgendeinen Ausweis oder so was? Ich meine, können Sie das beweisen?“
„Wie wäre es damit!“, sagte Hans Müller, zog sein Jackett zur Seite und Pfeffer konnte einen ledernen Pistolenholster mit der darin befindlichen Waffe sehen. Jetzt wurde ihm schlecht. Er hatte noch nie in seinem Leben eine Waffe so nah gesehen, höchstens mal bei den BGS-Leuten während der Rasterfahndung. Aber die wollten ja damals nichts von ihm , die waren ja auf die Meinhof und den Baader mit ihrer Schweinebande aus. Solange Sie nicht auf Dich gerichtet sind, nimmst Du Waffen kaum wahr. Das war auch bei einem Rick Pfeffer nicht anders. Jetzt aber saß ihm jemand gegenüber, der gerade noch ein völlig Fremder war, ihn direkt ansprach und eine Pistole bei sich trug, und das war der Moment in dem Rick Pfeffer echte Angst bekam.
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