Das gilt auch für meine jetzt folgenden Ausführungen, die sich mit einem meiner Lieblingsthemen befassen. Hier geht es um die unterschiedlichen Sichtweisen bzw. Interpretationen von dem, was man sieht, erlebt, liest oder hört.
Wenn ich Vorträge halte oder Workshops veranstalte, dann kann ich bei den Teilnehmern oft beobachten, dass einige von ihnen bei bestimmten Passagen den Kopf schütteln und mir damit signalisieren: „Das sehe ich aber ganz anders. Mit dieser Ausführung bin ich nicht einverstanden.“ Doch es gibt auch die andere Gruppe, die zustimmend nickt und damit deutlich macht: „Das sehe ich auch so. Das, lieber Seidel, ist in Ordnung.“ Klar, es gibt auch die, die keine Reaktion zeigen. Diese Gruppe bereitet mir als Referent immer Schwierigkeiten, weil ich sie nicht einschätzen kann.
Ich habe diese verschiedenen Reaktionen auch hier und heute beobachtet. Das ist normal. Und trotzdem möchte ich kurz darauf eingehen.
Ich sehe das nämlich so: Wenn Sie mit den Inhalten meines Vortrages stets einverstanden wären, meine Ausführungen immer mit Ihren Ansichten übereinstimmten, dann brauchten Sie gar nicht zuzuhören, dann wäre Ihre Teilnahme an der Veranstaltung sinnlos. Denn der Zugewinn an neuen Erkenntnissen und Wissen tendiert gegen null. Diese Veranstaltung ist aus meiner Sicht dann gut für Sie, wenn Sie etwas Neues, etwas Anderes hören, Informationen, die Sie verunsichern und verwundern. Wenn ich Dinge vortrage, die Sie bisher vielleicht sogar ganz anders beurteilt haben. In einem Satz: Wenn ich Ihre Erwartungshaltung – die ja durch Ihre Erfahrungen und Ihr Wissen geprägt sind – dadurch erfülle, dass ich Ihnen bisher unbekannte Sichtweisen vortrage.
Ich trage Ihnen meine Sichtweisen vor und verspreche Ihnen, dass alles, was ich behaupte, wahr ist. So habe ich es erkannt und für mich interpretiert. Es sind ganz einfach meine Wahrnehmungen, meine Wahrheiten.
Ich kann aber sehr gut akzeptieren, dass auch Sie eine besondere Sicht der Dinge haben, die mindestens so wahr ist wie meine. Meine Aufgabe besteht in diesem Vortrag darin, Ihr Wissen und Ihre Erfahrungen mit meinen Überlegungen und Schlussfolgerungen in Frage zu stellen, Sie davon zu überzeugen, dass es noch andere Sichtweisen gibt, und Sie dazu zu bewegen, zumindest teilweise zuzulassen, diese Wahrheiten – oder vielleicht besser: Wirklichkeiten; im Sinne von dem, was etwas bewirkt – als mögliche Alternative zu akzeptieren.
Dazu möchte ich ein Beispiel zeigen: Welche Zahl sehen Sie hier? – Es kommt auf den Standpunkt an. Für den einen ist es ganz klar eine „6“, während der andere eindeutig die „9“ erkennt.
Eine gute Metapher, um die Ursachen zu verdeutlichen, weshalb menschliche Ressourcen ungenutzt bleiben: Man versucht zu lange, dem anderen klarzumachen, dass dessen Ansichten falsch sind, anstatt sich zu fragen, wie der Chef oder ein Kollege zu seiner Interpretation und damit zu seiner vollkommen anderen Wahrheit kommt. Oder es werden Aufgaben delegiert, für die der Mitarbeiter keine oder nur bedingt notwendige Ressourcen hat, weil die Mutmaßung des Vorgesetzten falsch ist und er seine Wahrheit betreffend der Möglichkeiten seines Teammitgliedes unterstellt.
Alles, was ich Ihnen vorschlage, sind Möglichkeiten, die erst dann zu konkreten Chancen werden, wenn sich diese mit Ihren persönlichen Erfahrungen und Vorstellungen zu einer Strategie verbinden und Sie entscheiden, in Zukunft diese neuen Erkenntnisse zu berücksichtigen.
Und noch etwas: Konflikte gehören zum Leben. Sie entstehen unweigerlich, weil Menschen unterschiedliche Wahrnehmungen, Sichtweisen und Werte haben. Konflikte sind also die Regel – nicht die Ausnahme. Doch die wenigsten von uns haben gelernt, Konflikte konstruktiv zu lösen. Viel häufiger versuchen wir, mit indirekten Konfliktstrategien zurechtzukommen, indem wir Konflikte nicht wahrnehmen, sie bagatellisieren, den anderen beschuldigen, das Ganze harmonisieren oder einfach weggehen.
Unterschiedliche Sichtweisen gibt es immer. Es ist nur eine Frage der Kommunikation, ob Sie bereit sind, Ihrem Gegenüber zuzuhören und mit ihm gemeinsam nach einer Lösung suchen. Sich die Zeit zu nehmen und Interesse daran zu haben, den Konflikt zu lösen und nicht mit Hilfe von Druck oder gar Erpressung Ihre Meinung durchzusetzen.
Eine Ursache für die Probleme im Zusammenhang mit der Psychosozialen Gesundheit sind auch die unterschiedlichen Sichtweisen von Führung und Mitarbeitern. Ich will hier nicht die üblichen Sprüche loslassen, was „die oben“ über „die unten“ sagen und umgekehrt. Aber die Ergebnisse einer Untersuchung haben mich doch sehr beeindruckt.
Da wurden Führungskräfte nach ihrer Zukunftskompetenz befragt: 80 Prozent der Befragten glaubten, dass sie in der Lage seien, mit ihrer augenblicklichen Mannschaft die Anforderungen der Zukunft zu bewältigen. Die befragten „Untergebenen“ waren anderer Auffassung. Nur 18 Prozent glaubten, die richtigen Führungskräfte zu haben, um auch zukünftig erfolgreich zu sein.
Das sind wahrlich unterschiedliche Sichtweisen!
1.6 Bewusstsein, Wünsche und Ziele
Ich würde Ihnen gern noch eine weitere Erkenntnis vortragen, die ich in einem anderen Buch beschrieben habe und die für unsere Überlegungen und das Beratungskonzept interessant sein könnte.
Mit fokussiertem Bewusstsein schaffen oder beeinflussen wir unsere Realität. Um die gewünschten neuen Zustände zu schaffen, ist eine zielgerichtete Intention des Bewusstseins notwendig, damit das geschieht, was gewollt ist – und nicht irgendetwas. Dabei sind Wünsche nur Vorboten von Zielen; das gilt es unbedingt zu beachten. Denn wer nur eine vage Vorstellung von der zukünftigen, angestrebten Realität hat, wird auch nur irgendwas erreichen.
Egal ob ein Kind eine Sandburg baut, ein Koch eine Mahlzeit zubereitet, ein Sänger ein Lied komponiert oder ein Unternehmer eine Firma gründet, wir benötigen zum Gelingen unserer Vorhaben absichtliche und zweckbestimmte innere Vorstellungen, also klare Zielvorstellungen, damit die erforderlichen Informationen und Energien in uns entstehen. Informationen z. B. darüber, welche Ressourcen benötigt werden, welche Aufgaben zu erledigen sind und vor allem was entstehen soll.
Wenn Manager planen, dann haben sie gewisse Vorstellungen, wie es in Zukunft sein soll. Doch haben sie mit der Planung und den sich daraus ergebenden Konsequenzen auch das Bewusstsein aller Beteiligten verändert? Wenn es stimmt, dass auch das Bewusstsein der Menschen in den Unternehmen Gewinne und Verluste verursacht, stellt sich die Frage, was zu tun ist, weil doch in einem Unternehmen unterschiedliche „Bewusst-seine“ existieren.
Ein entscheidender Erfolgsfaktor, mit dem man bei den Mitarbeitern eine Verhaltensveränderung herbeiführen kann, ergibt sich aus der Vorbildfunktion der Manager, ihrer Geisteshaltung und vor allem ihrem Handeln. Auch dies wird vom Bewusstsein geprägt. Hiermit besteht die Chance, sich auf übergeordneter, der mentalen Ebene zu treffen, und dort die Brücke zu bauen.
Ebenso wichtig ist es aber, die unterschiedlichen Bewusstseine der Mitarbeiter auf die Unternehmensziele zu fokussieren. Gibt es keine eindeutigen Ziele, dann macht jeder mehr oder weniger das, was er glaubt, was richtig ist.
Warum ist diese Erkenntnis auch für unsere Arbeit wichtig? Weil man als Unternehmensberater immer das Problem hat, dass – auch bei der Umsetzung des hier vorgeschlagenen Konzepts – man nach den Workshops angeblich Ziele formuliert wie …
• Wir werden eine Gesundberatung initiieren.
• Wir werden die Führungskräfte zu dem Thema „Psychosoziale Gesundheit“ weiterbilden.
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