Das sichtbare Licht dieser Welt wird mir wohl zunächst aus einer elektrischen Stubenlampe entgegengestrahlt sein. Sie hing über dem großen runden Tisch in der Mitte des Wohnzimmers meiner Großeltern und war, wovon ich mich später überzeugen konnte, mit schönen bunten Perlenschnüren bekränzt. Das Liegen unter ihrem Lichtkegel, aus dem auch die Stimmen der mit mir beschäftigten Menschen zu kommen schienen, dürfte zu den ersten schwach erinnerlichen Wahrnehmungen meines Lebens gehören. Man hat mir später erzählt, ich sei auf diesem Tisch gewindelt worden, wobei gewöhnlich außer meiner Mutter auch ihre beiden Schwestern und meine Großeltern anwesend waren. Mein Vater dürfte damals selten zugegen gewesen sein. Als gelernter Schlosser befand er sich in der Gegend von Leipzig, um an einer weiterführenden Berufsausbildung für Lokomotivpersonal teilzunehmen. Meine Mutter arbeitete als Weißnäherin in einer der zahlreichen Auerbacher Textilfabriken. Meine Eltern waren also im Begriffe, für sich und für mich an einer hoffnungsvolleren Zukunft zu arbeiten.
Da meine Mutter mit mir noch bei ihren Eltern wohnte, wurde ich während ihrer Abwesenheit von den beiden Tanten und der Großmutter betreut. An Fürsorge und lieben Menschen hat es mir damit von Anfang an nicht gefehlt. Besonders fühlte ich mich zu meiner Tante Marie hingezogen. Sie hatte im ersten Weltkrieg den Verlobten verloren und war unverheiratet geblieben. Sie führte Heimarbeit aus und konnte deshalb bei Bedarf jederzeit für die Betreuung des neuen Erdenbürgers zur Stelle sein.
Auf dem Schoße der Mutter, Foto 1924
Mein Großvater, der seinen Sohn und Geschäftsnachfolger durch den Krieg verloren hatte, übte seinen Beruf als Schmiedemeister noch aus, obwohl er dafür eigentlich schon zu alt war. Der Krieg und die nachfolgende Inflation hatten ihn wirtschaftlich ruiniert. Als Kleinkind habe ich ihn noch gemeinsam mit einem Gesellen in seiner Schmiede hantieren gesehen. Sie befand sich im Parterre unseres Hauses. Wenn man in das obere Stockwerk gelangen wollte, musste man auf einem mit Fließen belegten Gang an den drei nebeneinander aufgestellten Amboss Steinen vorbeigehen. Man sagte mir später, ich sei wie alle in diesem Hause geborenen Kinder, täglich in dem durch das Abschrecken von glühendem Stahl erwärmten Wasser aus Großvaters Schmiede gebadet worden. Noch zu einem viel späteren Zeitpunkt, als ich schon in Altenburg die Schulbank drückte und meinen Geburtsort nur noch in den Ferien aufsuchen konnte, begrüßte mich ein alter Nachbar jedes Mal mit den Worten: „D’r eis’nwass’rgebodene Fritz is wieder do!“
Dieser „eisenwassergebadete“ Nachwuchs im alten Schmiedehaus wuchs zu einem lebhaften und auch recht sensiblen Burschen heran. In dem alten Haus gab es genug Nischen, Treppen und Truhen, wo sich ein Dreikäsehoch verkriechen, wo er herumklettern und Unbekanntes aufstöbern konnte. Sein Temperament wurde nur gebremst, wenn er von den Erwachsenen einmal wieder eine jener Schauergeschichten aufgeschnappt hatte, die manchmal bei den abendlichen Gesprächen zum Besten gegeben wurden. Dann bekam das alte Haus für ihn ein gespenstisches Innenleben, sodass er sich nicht mehr sorglos in jeden Winkel zu kriechen traute. Viele Frauen in jener damals besonders armen Gegend waren oft bis in die tiefe Nacht hinein mit Heimarbeiten beschäftigt, um ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. Da verband man gern die Pflicht zur Arbeit mit dem Angenehmen einer Unterhaltung, indem man sich reihum in den Wohnungen traf. Während die Frauen mit sicherer und flinker Hand feine Spitzenmuster aus Stoffbahnen ausschnitten, wozu kleine sehr scharfe Scheren benutzt wurden, liefen die Neuigkeiten aus der Stadt, manche Erinnerung an frühere bessere Zeiten und manchmal auch die schaurigsten Geschichten in der Runde. Je mehr ich davon mithörte, umso neugieriger wurde ich auf eine Fortsetzung des Geschichtenerzählens. Mein Widerstand gegen ein rechtzeitiges Zubettgehen wuchs dabei immer mehr, jedoch nicht allein wegen meiner Neugier, sondern auch deshalb weil ich mich vor dem Alleinsein in der dunklen Kammer fürchtete. Die Schlafkammern befanden sich nämlich unter der Dachschräge. Sie hatten keine elektrische Beleuchtung. Man erreichte sie über eine knarrende Stiege. Dabei führten die Erwachsenen eine brennende Kerze mit. Nach dem Nachtgebet lag ich dann jedes Mal allein unter meinem dicken Federbett während meine Mutter oder die Tante mitsamt dem Kerzenlicht über die alte Holztreppe nach unten verschwand. Gespenstische Schatten drehten sich dabei noch einige Male um das rohe Gebälk des Dachbodens. Dann lag alles im tiefen Dunkel. Gelegentliches Knacken eines Balkens oder das Rütteln des Windes am Dach bewirkten, dass meine Phantasie oft noch lange an dem Faden aus der gehörten Erzählung weiterspann ehe ich endlich einschlief. Daran erinnere ich mich noch heute sehr gut, weil ich auch zu späterer Zeit noch häufig und für längere Dauer bei meinen Großeltern in Auerbach sein durfte, als meine Eltern schon längst eine gemeinsame Wohnung in Altenburg bezogen hatten.
Bis in die Gegenwart hinein hänge ich mit einer besonderen Zuneigung an meiner Geburtsstadt und ihren Bewohnern, obwohl nun keiner mehr von denen am Leben ist, die ich einst kannte. Meine Tante Marie nahm mich fast immer mit, wenn sie Besuche oder Besorgungen zu machen hatte. Dadurch lernte ich alsbald die meisten Geschäfte und viele Menschen kennen. Beim Fleischer Müller um die Ecke, dessen Grundstück an das Unsere grenzte, erhielt ich manchmal ein warmes Würstchen aus dem stets angeheizten silberglänzenden Metallkessel vom Ladentisch. Aus dem Laden des Kaufmannes, in dem es geheimnisvoll nach Gewürzen, Kaffee und anderen Düften aus aller Welt roch, ging ich nie wieder heraus, ohne dass er mir ein paar Bonbons schenkte. Kolonialwarenladen nannte man damals diese Art Lebensmittelhandlungen. Der Besitzer, Herr Knoll, betrieb auf seinem Grundstück eine eigene Heringsräucherei und röstete auch den von ihm angebotenen Kaffee selbst. Er war ein rühriger liebenswürdiger Mann. Seine Frau beeindruckte mich wegen ihres alemannischen Dialektes. Sie hatten einen Sohn, der zwei Jahre älter war als ich, weshalb ich öfter zu ihm eingeladen wurde. Gottfried wuchs in einem wirtschaftlich gut gesicherten Hause auf. Sein Spielzeug war vom solidesten und teuersten. Wenngleich ich den Unterschied zu meiner eigenen häuslichen Umgebung wohl fühlen mochte, so war ich doch fest davon überzeugt, dass es mir am allerbesten ging. Diese meine ersten Jahre waren durchaus ein guter Anfang für mich. Ich wurde von vielen Menschen verwöhnt und von meinen Verwandten sehr nachsichtig behandelt. Besonders meine Großmutter konnte mir nie einen Wunsch abschlagen. Gemessen an den Kinderwünschen der heutigen Zeit waren meine Wünsche allerdings recht bescheiden. So brachte mich im Sommer der Eismann mit seiner Handglocke in Bewegung. Ein Fünfpfennigstück war bei Großmutter immer drin, trotz ihrer sehr kleinen Rente. Ihre besondere Nachsicht mir gegenüber hatte bei Großmutter einen besonderen Grund, den ich erst viel später erfahren sollte. Als sie nämlich ihren einzigen Sohn durch den Krieg verloren hatte, da verfiel sie in eine schwere Gemütserkrankung und interessierte sich nicht mehr für ihre Umwelt. Dieser Zustand besserte sich erst seit meiner Geburt nach und nach. Das führte bei den Mitgliedern der Familie zu der Ansicht, dass die Geburt ihres ersten Enkels den Beginn ihrer Genesung ausgelöst habe. Dazu mag auch mitgeholfen haben, dass man mir den Vornamen „Fritz“ gegeben hat. So hieß jener Onkel, den ich nicht mehr kennenlernen konnte. Ich war in eine Umwelt hineinversetzt, die sich wohl für die Erwachsenen in einem recht betrüblichen Zustand befand, jedoch für ein Kind in ausreichendem Maße Geborgenheit bereithielt. Deutschland litt an den Folgen des größten Massengemetzels, das die Menschen bis dahin je erfunden und nicht ohne Grund als „Weltkrieg“ bezeichnet hatten. Die einfachen Menschen in diesem Land befassten sich mit den lebensnotwendigen Dingen und versuchten, ihre eigene kleine Welt in Ordnung zu halten. Ich habe es immer als einen besonderen Glücksumstand angesehen, dass ich als Vogtländer geboren wurde. Die Menschen in meiner Umgebung waren ziemlich anspruchslos gegenüber den materiellen Dingen aber in ihrer Nähe entwickelte sich ein Empfinden von Wärme und Geborgenheit wie ich es andernorts und später nur selten erlebt habe.
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