Stella Delaneyist in einem beschaulichen kleinen Dorf im fränkischen Weinland aufgewachsen, lebt aber nach einem längeren Zwischenstopp in England bereits seit einigen Jahren in der Schweiz, zusammen mit ihren Katzen. Brot und Katzenfutter verdient sie als Lehrerin für Englisch, Deutsch und Allgemeinbildung an einer Berufsfachschule. Ihr Studium der Anglistik/Germanistik hat sie zuvor mit Jobs wie Kindermädchen, Kellnerin, Kinoangestellte und Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache finanziert, und nebenbei Erfahrung als Märchenerzählerin, freie Journalistin, Übersetzerin und Buchkritikerin gesammelt. Sie schreibt Dystopie, Fantasy, Mystery, Suspense und Krimi, meist kombiniert mit (Queer) Romance Elementen. Ihre Kurzgeschichtensammlung »Staub und Regebogensplitter« wurde mit dem Skoutz Award 2018 ausgezeichnet.
Mehr auf www.stelladelaney.ch
Impressum
© 2018 Stella Delaney
Wässerwiesenstrasse 67M; 8408 Winterthur
Korrektorat: Phoenix Lektorat - https://phoenixlektorat.com(Katherina Ushachov)
Cover: Cover & Books - Bookcoverdesign by Rica Aitzetmüller
Buchsatz: ungecovert - Buchcover und mehr (Kim Leopold)
Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin
FÜR TIGER UND OLI
STAUB
MEER
HIMMEL
EISEN
STEINE
GESCHICHTEN
STERNE
WIR
Ich. Ein neues Wort, dessen Bedeutung mir noch nicht völlig klar ist. In Gedanken wiederhole ich es, wieder und wieder. Lasse es auf mich wirken. Betaste, drehe, koste es. Als wäre es ein unbekannter Gegenstand, ein Geschmack, den ich erst einordnen muss.
Ich.
Ich.
Ich.
Da ist ein Ziehen in meinem Kreuz, in meinem Nacken, aber ich verharre dennoch in der unbequemen Position, kauere auf dem Boden. Lasse Erde durch meine Finger rieseln, wieder und wieder. Ich bin. Ich atme. Ich fühle. Die Härte, die kleinen Körner.
Staub. Wir alle sind daraus gemacht. Und es wird alles sein, was von uns bleibt, wenn ... Mich durchfährt ein Blitz, eiskalt und doch brennend. Ich will nicht an den Tod denken. Nicht schon wieder. Doch jeder Versuch, den Gedanken wegzuschieben, schlägt fehl. Er flattert durch meinen Kopf wie ein verängstigter Vogel, der gerade festgestellt hat, dass mit dem Fenster auch sein einziger Weg zurück verschlossen wurde.
Ich habe versucht, es zu beenden. Aber eigentlich ... eigentlich wollte ich es nicht. Will ich es nicht. Erde fällt durch meine Finger, der Wind trägt winzige Staubpartikel davon. Und der Schmerz hallt dumpf durch meinen Körper, als mein Verstand die Worte formt, die doch ungedacht bleiben sollten: Ich will nicht sterben.
Es war das Weinen, das Sam nicht mehr losließ. Das Wimmern eines kleinen Kindes, so völlig ohne Hoffnung. Es bohrte sich in seinen Kopf, klammerte sich an seine Gedanken. Würde ihn noch in seinen Träumen verfolgen.
Gerade eben war es noch ein ganz normaler Tag in einer ganz normalen Siedlung gewesen. Die Bewohner von Township 2 waren in den Straßen unterwegs - auf dem Weg zur Arbeit, zum Einkaufen, zu wichtigen Terminen. Männer und Frauen in grauen Overalls, die sie als einfache Produktionsarbeiter kennzeichneten. Dazwischen einzelne Personen in schwarzen Anzügen und dunklen Kostümen, die auf den nahen Untergrundbahnhof zueilten, und junge Frauen in bunten Sommerkleidern, die in Gruppen zusammenstanden. Sie redeten und lachten.
Daneben spielten Kinder. Ein kleines Mädchen mit einer roten Schleife im Haar kreischte vor Begeisterung, während es versuchte, einen der älteren Jungen zu erhaschen, der ihr immer wieder spielerisch auswich.
Ein lauter Knall, ein reißendes Geräusch, ein tiefes Grollen. Entsetzte Blicke, Schockstarre. Dann Schreie.
Einige begannen, in wilder Panik davonzurennen, andere kauerten sich auf den Boden. Etwas traf von der Seite die Kamera, riss sie fast mit sich. Wassertropfen auf dem Objektiv, Bildausfall. Nur noch Rauschen und das andauernde Weinen des Kindes.
Und dann Stille.
»Ich weiß, du wolltest dieses Treffen nicht. Du fühlst dich quasi erpresst.« Kayla schaltete den Bildschirm aus und sah ihn mit diesem mütterlichen Blick an. Einem Blick voller es ist besser so und du wirst auch noch einsehen, dass ich Recht habe. »Aber es geht um etwas, das wichtiger ist, als deine Befindlichkeit. Und du bist ohnehin hier. Warum bleibst du nicht noch einen Moment, und hörst mir einfach nur zu?«
Sam atmete tief ein. Na großartig. Das Ganze war reine Zeitverschwendung. Aber er hatte ihre Hilfe gebraucht, und wenn dieses Treffen der Preis dafür war, dann würde er es durchstehen. Sie würde versuchen, ihn zu überreden. Und es würde ihr nicht gelingen. Nein. Die Antwort war nein. »Also gut. Einen Moment.«
Kayla stützte ihr Kinn auf die gefalteten Hände. Sie hätte bestens hinter den Schreibtisch eines großen Konzerns gepasst, oder ans Kopfende eines Konferenztisches mit wichtigen Anzugträgern. »Nehmen wir an, es stünde eine gigantische Flut bevor. Eine gewaltige, durchaus auf dem Level von vor zwei Jahren.« Sie sah Sam beschwörend an. »Und nehmen wir weiter an, es würden keinerlei Vorkehrungen dafür getroffen. Keine Information der Bevölkerung, kein Evakuierungsplan - nichts.«
Verdammt, jetzt hatte sie doch seine Aufmerksamkeit. »Ist das denn der Fall?«
»Laut unseren Informationen - ja.«
»Und diese Informationen sind verlässlich?«
»Davon gehen wir aus. Dieselbe Quelle, die uns schon seit langem auf die Parallelen zwischen unserer Situation und der von Township 2 aufmerksam macht. Und was mit Township 2 passiert ist, hast du ja gerade gesehen.«
Sam wich ihrem Blick aus und starrte auf seine Finger, die er im Schoß zu einem Knoten verschränkt hatte. Kayla suchte seine Sollbruchstelle, und sie war bereits verflucht nahe dran. Dazu hallte irgendwo im Hintergrund seines Verstandes immer noch das Weinen nach.
»Wir wussten schon die ganze Zeit, dass Manticor uns etwas verschweigt. Dass sie nicht die großen Wohltäter sind, für die sie sich ausgeben. Aber jetzt ist es wichtiger denn je, dass wir herausfinden, was sie wirklich hier wollen.« Sie rückte näher und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Hunderte Menschenleben, Sam. Vielleicht sogar Tausende. Ist dir das wirklich egal?«
Das hatte gesessen. Sam konnte die Risse förmlich fühlen, die sich auf der Oberfläche der Mauer bildeten, hinter der er sich verkrochen hatte. »Und was kann ich da tun?«
»Wir brauchen einen Plan. Dir wird doch sicher etwas einfallen.« Lockend, verführerisch. Komm schon. Sag ja.
»Aber ich bin kein Mitglied der Gruppe mehr. Ich habe seit Monaten ...«
»Du gehörst immer noch dazu.« Wieder dieser Blick. Komm zurück, Sam. Wir brauchen dich.
Er schüttelte ihre Hand ab, stand auf. Er musste hier raus. »Ich denke darüber nach.«
Und da spielte sie ihren letzten Trumpf aus: »Aber nicht zu lange. Die Flut wird in acht Tagen erwartet. Das heißt, uns bleiben nur noch sieben.«
Die Worte verfolgten ihn, während er den Flur entlanglief. Seine Schritte waren rhythmisch, wie das Ticken einer gigantischen Uhr. Tick. Tack. Tick. Tack. Die Zeit lief unbarmherzig. Ließ sich nicht bitten, nicht anhalten.
Sieben. Eine magische Zahl. Sieben Tage in der Woche, sieben Schwäne im Märchen. Sieben Weltmeere. Sieben Todsünden. Sieben Tage.
Wenn es stimmte - und er hatte leider keinen Grund, den Informationen zu misstrauen - was sollten sie dann tun? Wie sollten sie es schaffen? Was konnte er dazu beitragen?
Читать дальше