Das Timing war perfekt gewesen. Es hatte alles so funktioniert, wie er es sich ausgemalt hatte. Besser noch. Der Sturm und das Gewitter waren wie ein Wink von oben zur rechten Zeit gekommen. Fast wie vorherbestimmt. Das Blut pumpte noch immer durch seine Adern, es schoss durch die Gefäße und dröhnte in seinen Ohren wie ein Sturzbach. Oder war es das Rauschen des Regenwassers, das die Straßen überschwemmte und in die Gullys strömte? Er sah noch ihre grellrot geschminkten Lippen vor sich, ihren vollen Busen unter dem tiefen Dekolleté. Sie hatte es eindeutig verdient. Wie konnte man nur so unsensibel sein? Das Gefühl des Triumphes erfüllte ihn von Neuem, ergoss sich regelrecht über ihn wie eine prickelnde Dusche. Er schob sich das nasse Haar aus der Stirn und sah auf die Uhr: Es war höchste Zeit zu verschwinden.
*
Wilasich trat mit geöffnetem Schirm auf Orsini zu. Im weißen Ganzkörperanzug wirkte er wie ein surrealer Tanzbär, einem Jahrmarkt in einem mittelalterlich-futuristischen Film entsprungen. Abgesehen davon sah er müde aus. Schlapp rieb er sich die Augen, drehte den Schirm zur Seite und sah nach oben. Gerade noch hatte es wie aus Bächen geschüttet, nun aber tröpfelte es nur mehr. Das Gewitter war nach Osten abgezogen und hatte ein kleines Chaos hinterlassen. Blätter, Zweige und Unrat lagen über Wiese und Wege verstreut, als wär’s eine Müllhalde. Allerdings war die Luft sauber wie selten. Es roch nach warmer, feuchter Erde und blühenden Sträuchern. Nur nach und nach würden sich die üblichen Großstadtdüfte wieder einschleichen.
„Was wissen wir bis jetzt?“
„Nicht sehr viel“, antwortete Wilasich und deutete auf einen der Funkwagen. „Die junge Frau drüben im Wagen hat die Tote gefunden und dann Alarm geschlagen. Sie war am Heumarkt bei einer sogenannten Beachparty. Als es zu regnen begonnen hat, ist sie, wie die meisten anderen auch, zu einer der Hütten gelaufen, um dort Schutz zu suchen.“
„Was für Hütten?“
„Holzhütten wie am Weihnachtsmarkt, nur dass statt Punsch Cuba Libre verkauft wird.“
„Karibik am Heumarkt?“
„So ähnlich, sie haben sogar Sand aufgeschüttet fürs richtige Beachfeeling. Scheint in zu sein.“
„Super Geschäftsidee.“
„Jedenfalls, als es nicht aufgehört hat zu regnen, wollte sie zu ihrem Auto und hat die Frau gefunden.“
Orsini nickte. Langsam gingen sie auf die Fundstelle zu. Die gesamte Szenerie hatte etwas Unwirkliches. Vor ihnen thronte Ludwig van Beethoven auf seinem Sockel, zu seinen Füßen tanzten Engel. Dahinter erstrahlte der Platz in grellem Licht, das die Umgebung samt den Kollegen von der Spurensicherung in seltsame Schatten tauchte.
„Weiß Pokorny davon?“, fragte Orsini beiläufig.
„Pokorny?“, fragte Wilasich und sah ihn an. „Nein, der ist doch auf dem Seminar.“
„Hab ich vergessen.“ Orsini schüttelte den Kopf und ließ seinen Blick über das Denkmal wandern. Wie viele steinerne Engel es in der ganzen Stadt wohl gab? Als Schutzengel machten sie hier jedenfalls keine gute Figur.
Schräg hinter dem Monument stand ein Plastikzelt, das sich in Nichts von den Partyzelten, die es in jedem Baumarkt zu kaufen gab, unterschied. Ob es in diesem Fall rechtzeitig aufgestellt worden war, um ihnen noch Informationen zu liefern? Beamte in Uniform sicherten die Stelle vor allzu neugierigen Blicken ab, denn trotz der späten Stunde hatte sich bereits eine kleinere Ansammlung an Schaulustigen gebildet. In Orsini stieg ein saurer Geschmack aus dem Magen hoch. Manche brauchten offensichtlich einen Extrakick als optimalen Abschluss eines feuchten Abends.
„Was hat die Zeugin im Gebüsch gesucht?“
„Musste sich übergeben“, erklärte Wilasich. „Sie hat einen über den Durst getrunken.“
„Jetzt ist sie aber vermutlich nüchtern.“
„Mehr als das. Elvira spricht grade mit ihr und versucht sie zu beruhigen.“
„Die Identität der Toten?“
„Dorothea Hausner, steht zumindest auf ihrer Bankomatkarte. Wir überprüfen das grade. Hab die Karte in ihrer Geldbörse gefunden, in der Handtasche.“ Wila sah ihm entschuldigend ins Gesicht. Er wusste um Orsinis beinahe pedantische Einstellung zu Tatorten. Solange man nichts verändert hatte, konnte man, wenn man schnell genug war, manchmal etwas einfangen, was über die reine Atmosphäre eines Ortes hinausging. Als gäbe es einen Abdruck des Täters im Jetzt, der aus der Vergangenheit herüberreichte.
„Ich hab so wenig wie möglich angerührt, aber ich dachte, die Identität sei vorrangig.“
Orsini nickte beschwichtigend.
„Vergewaltigung?“
Wilasich schüttelte den Kopf. „Zumindest so weit wir das bis jetzt beurteilen können.“
„Was gestohlen?“
„Auch eher nicht. Die Handtasche lag geschlossen neben ihr, das Geld ist auch noch da.“
„Fußspuren, Schleifspuren?“
„Ein eindeutiger Schuhabdruck von der Zeugin. Aber sonst bezweifle ich, dass wir was Brauchbares haben. Es hat doch über eine Stunde stark geregnet ...“
„Ist abgesehen von der Geldbörse was verändert worden?“
„Nur von oben“, antwortete Wilasich und deutete mit der Hand in den Himmel. „Der Notarzt hat keine Wiederbelebungsversuche unternommen. Dazu war es zu eindeutig. Und auch die Beamten von der Streife schwören, dass sie ...“
„... nichts angerührt haben. Ist schon okay“, murmelte Orsini, zog sich Plastiküberschuhe und Handschuhe an und trat näher. Die Tote lag inmitten eines hüfthohen Gebüsches. Absperrbänder hielten die Zweige auseinander. Gerade als er sich zu ihr hinunterbeugen wollte, legte sich eine Hand auf seine Schulter.
„Schönes Wetter für einen Selbstmord“, sagte eine Stimme hinter ihm.
„Selbstmord?“ Orsini drehte sich um.
„Aufgeschnittene Pulsader. Was soll das sonst sein?“, erwiderte Gottschlich verächtlich.
Orsini sah ihm ins Gesicht und wandte sich dann kommentarlos der Toten zu. Sie trug ein ärmelloses, dunkles Kleid und Schuhe mit hohen Absätzen und wirkte eher elegant. Zugleich hatte sie etwas Zähes an sich. Sie musste trainiert haben, ging es ihm durch den Kopf. Die Schminke in ihrem Gesicht war verlaufen. Der Regen hatte dort kleine dunkle Rinnsale hinterlassen. Einige davon sahen aus wie schwarze Tränen. Orsinis Blick wanderte über den zerschnittenen Arm. Ihre Hände allerdings ... Er stutzte: kurze Fingernägel, Schwielen.
Die Handtasche lag am aufgeweichten Boden neben der Leiche. Orsini öffnete sie vorsichtig. Schminksachen, ein Halstuch, einige andere Gegenstände – kein Ausweis. Wo war sie vor ihrem Tod gewesen? Hatte sie sich einen schönen Abend machen wollen? Eine Verabredung?
„Selbstmord ...“, murmelte er kopfschüttelnd vor sich hin, während sein inneres Auge das Foto der Drogensüchtigen auf die Tote vor ihm projizierte. Das Äußere war gepflegter, sie war zu Lebzeiten wohl kaum am Karlsplatz herumgelungert, aber ... vom Typ her waren durchaus Parallelen vorhanden.
„... hat weder Schirm noch Regenmantel dabeigehabt“, ergänzte Wilasich nun seine Ausführungen.
„Oder jemand hat sie mitgenommen.“
Wilasich zog eine Augenbraue nach oben und nickte Richard Lehner, einem der Tatortleute, zu. Er kniete neben dem Gebüsch, hatte eine Mappe am Schoß und machte darin eifrig Notizen.
„Wenig Blut am Boden“, bemerkte Orsini. Am dunklen Kleid konnte man zwar Blutspritzer ausmachen, ihre Konturen waren aber verwaschen. „Spricht eher dafür, dass sie nicht hier gestorben ist.“
„Ja, allerdings kann der Eindruck durch den Regen verfälscht sein. Wir werden das Erdreich abgraben und untersuchen“, erwiderte Lehner.
Orsini mochte ihn. Lehner hatte eine gewissenhafte, zuverlässige Art und war in seinen Augen bei der Spurensicherung genau am richtigen Platz – im Gegensatz zum Gruppenleiter. „In Ordnung. Wäre wichtig, wenn ihr das bald rausfinden könntet.“
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