»Heeey, es wird einen schönen Vollmontag geben, die trotteligen Vampire fliegen mal wieder tief!«
»Yo, Spitzzahn, mach langsamer, deine Lunch Box kommt mit seinen Stummelflügeln nicht hinterher!«
Ja, die Wasserspeier der Gruselheimer Bibliothek waren bekannt für ihre hämischen Sprüche, Streiche und Scherze. Es hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass ein gewisser Lektor ihnen mit Magie diese Flausen in die steinernen Köpfe gesetzt hatte.
»Na wartet!«, grinste Julius und hielt mit voller Geschwindigkeit auf den ersten Wasserspeier zu.
»M… Mo… Moment, Kleiner, was zum Teufel wird das denn jetzt?«
Julius klappte die Hände nach hinten und stob knapp vor dem vorlauten Wasserspeier senkrecht nach oben, worauf dieser vor lauter Schreck ein paar Steinchen in die Tiefe rieseln ließ.
»Sehr witzig, Blutpanscher!«, maulte es von oben, als Julius lässig vor der Eingangstür auffederte und auf den hechelnden Flap wartete.
»Yo, Flugmäuschen, friss mal weniger Käfer, sonst hält man dich bald für den Mond!«, schallte es vom Turm und meckerndes Gelächter ertönte.
»Wie ich diese Steinproleten hasse!«, knurrte Flap und setzte sich keuchend auf Julius’ Schulter. Dieser öffnete die große, knarzende Eingangstür zur Bibliothek.
Leicht muffige Luft schlug ihnen entgegen und Julius rätselte, ob es am Alter des Bauwerks oder an den Besuchern lag. Drinnen gab es sowohl schwere Eichentische und uralte Folianten als auch moderne Computer sowie neuere Bücher, Zeitschriften und Comics. Kronleuchter und Kerzenständer sorgten für warmes Licht und konkurrierten mit dem Flimmern der PC-Monitore. Die Bibliothek erstreckte sich über mehrere Stockwerke, die über verschiedene Wendeltreppen und einen Aufzug zu erreichen waren. Julius schlenderte im Eingangsbereich zu Frau Weberknecht und meldete sich an.
»Hallo, Frau Weberknecht, lange nicht mehr gesehen. Wie geht es Ihnen?«
Frau Weberknecht schaute mit einem ihrer Augenpaare von ihren Karteikarten auf und lächelte. Sie war eine Spinnendämonin kurz vor der Rente und ihr gedrungener Spinnenkörper steckte in einem weiten Blütenkleid, das mehrere Öffnungen für die acht Gliedmaßen hatte.
»Wenn das nicht mein Lieblingsvampir ist. Schön, dich mal wieder zu sehen, Julius Schlotterbeck. Warst schon länger nicht mehr hier. Habt ihr ein Schulprojekt oder willst du tatsächlich ein Buch lesen?«
»Gedrucktes ist tot, Frau Weberknecht!«, grinste Julius und fügte angesichts der sichtlich getroffenen Bibliothekarin hinzu: »Aber ich brauche tatsächlich was für ein … hmm … Schulprojekt und vielleicht nehme ich mir ja noch ein paar Comics mit.«
»Comics, pfffft!«, machte Frau Weberknecht verächtlich und winkte mit einem Spinnenarm ab, während ihre anderen Arme auf die Tastatur klackerten und Karteikarten sortierten. »Wir haben hier so viele schöne Bücher und die jungen Kreaturen von Gruselheim wissen nichts Besseres, als ständig an ihren Smartphones oder vor dem ScaryNet zu sitzen.«
Frau Weberknechts Augenpaare schauten plötzlich traurig und so lenkte Julius schnell ein: »Ich interessiere mich sehr für die Geschichte Gruselheims.«
Frau Weberknecht strahlte plötzlich. »Aaaah, das ist schön. Wo wir doch so eine lebhafte Geschichte hier in Gruselheim haben. Die Hexengilden. Die großen Kriege der Schreckritter. Die Ghoul-Invasion von 1822. Der Vampirkrieg. Der große Magier-Streik 1904. Die Schlacht von …«
»Frau Weberknecht«, unterbrach Julius freundlich, aber bestimmt, »ich muss dringend den großen Lektor Donatus sprechen. Meinen Sie, er hat kurz Zeit für mich?«
Frau Weberknecht wurde still und schaute auf ihren Schreibtisch.
»Du willst zum großen Lektor? Bist du dir sicher, Julius? Ich kann dir gerne weiterhelfen, wenn es um Bücher geht. Wer hier etwas sucht, wird es meist finden – ob er will, oder nicht.«
Julius beugte sich über die Theke und setzte eine geheimnisvolle Miene auf, die Flap sogleich versuchte, zu imitieren. »Frau Weberknecht, ich habe eine wichtige Aufgabe und deswegen muss ich unbedingt mit dem alten Donatus sprechen. Bitte sagen Sie mir, wo ich ihn finden kann.«
Frau Weberknecht klappte den Karteikasten mit einem lauten Klacken zu.
»Für dich, junger Mann, ist er der große Lektor. Und ja, er ist natürlich im Haus. Du findest ihn im dritten Stock. Aber ich warne dich, junger Vampir, er ist heute besonders schlecht gelaunt! Vorhin war eine Schulklasse da und hat nicht nur einen Riesenlärm gemacht, sondern auch eine seiner Medusen-Vasen vom Tisch gestoßen.«
Julius biss sich auf die Unterlippe. »Schlechter als sonst? Auweia«, murmelte er und drehte sich zu Flap. »Vielleicht solltest du eher bei Frau Weberknecht bleiben. Der alte Don… ääähm, der große Lektor steht, glaub ich, nicht so auf Haustiere und Dämonen-Begleiter.«
Flap überlegte kurz und quietschte dann vergnügt: »Kein Ding, Bro, ich bleib hier und stehe Schmiere.«
Frau Weberknecht nestelte mit einem ihrer acht Arme an einer Schublade herum. »Du bist aber eine niedliche kleine Fellkugel. Hast du Hunger? Magst du Leckerli?«
Flap funkelte sie an. »Bin ich ein dämlicher Hund oder was? Ich bin eine hocheffiziente, mit Echolot ausgestattete Kommando-Einheit mit … oooh – getrocknete Motten, leeeckeeer!« Flap flatterte hurtig hinter die Theke und fraß genüsslich aus Frau Weberknechts Spinnenhand.
»Na dann viel Spaß und lass es dir schmecken, du hocheffiziente Kommando-Einheit. Bis später!«, grinste Julius und verließ die Empfangstheke in Richtung Wendeltreppe.
Julius stieg die steile Wendeltreppe nach oben und musterte seine Umgebung. Es war still in der Bibliothek, nur vereinzeltes Räuspern war zu hören. Im dritten Stock standen mehrere Computer. Julius zählte sechs Besucher, die angestrengt auf die Monitore stierten. Das adrett gekleidete Skelett las sich einen alten Zeitungsartikel durch, während die matschige Schlamm-Hexe am nächsten PC anscheinend nach Rezepten für einen delikaten Krötenauflauf im ScaryNet suchte. Neben den sechs Besuchern an den PCs saßen noch vereinzelte Besucher in den Sesseln und stöberten in Büchern. Julius grüßte beim Vorbeischlendern und nahm leise Grüße sowie Knurr- und Zischlaute wahr. Endlich stand er vor dem Büro des großen Lektors.
»Kein Zutritt!«, »Unerlaubter Zutritt verboten!«, »Termin nur bei Anmeldung im Eingangsbereich!« , war auf mehreren Schildern geschrieben und Julius schluckte.
Ob das wirklich so eine gute Idee war?
Wie um seine Zweifel zu untermauern, ertönten plötzlich wüste Flüche und Beschimpfungen aus dem Büro.
»Das ist mir doch völlig egal. Es waren Schüler IHRER Schule, Draco. Ich will die Vase ersetzt haben!«
Julius wartete an der Tür und lauschte angestrengt, bis die Beschimpfungen weniger wurden und das Gespräch mit einem »Dann gibt es für die halt Hausverbot!« beendet wurde. Julius schnaufte kurz durch und klopfte zaghaft an der Tür.
Keine Antwort.
Julius klopfte noch mal. Dreimal. Tock, tock, tock .
»Verdammte Drei … jetzt fange ich auch schon damit an!«, knirschte er in sich hinein.
Wieder keine Antwort.
Julius nahm seinen Mut zusammen und öffnete langsam die Tür.
»Herr Donatus? Großer Lektor? Hätten Sie vielleicht einen Mom…«
KRACH!
Julius duckte sich gerade noch unter dem schweren Buch (»Erziehungsratgeber für Scheidungs-Hexen«) hindurch und stolperte vornüber in das Büro des großen Lektors. Mit einem weiteren Knall schloss sich sogleich die Tür hinter ihm.
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