»Hallo, Cassandra. Schön, dass du es einrichten konntest«, sagte sie leise.
Julius sah, wie sich der Nebel verflüchtigte und den Blick auf eine hochgewachsene, schlanke Hexe freigab, die lässig an einem großen silbernen Spiegel lehnte. Sie hatte ein langes schwarzes Kleid an, trug einen typischen Hexenhut und eine schwarze Handtasche baumelte an ihrer Seite. Und sie war – bildhübsch! Die Hexen, die Julius sonst in Gruselheim sah, hatten Warzen, fettige Haare und krumme Rücken.
»Sie … Sie sind ja … gar nicht wie die anderen Hexen«, stammelte Julius.
»Sagt der kleine Vampir mit nur einem Zahn, der statt Blut Tomatensaft und irgendwelche Energydrinks säuft!«, kam es prompt zurück.
»Vorsichtig, Cassandra!«, mahnte Julius’ Mutter. »Du bist hier, um zu helfen, und nicht, um wieder Ärger zu machen!«
»Ist ja gut«, zischte Cassandra, schnippte den gaffenden Flap zur Seite und schwebte auf Julius zu. »Aaalso, was haben wir denn da? Trinkt kein Blut. Braucht dringend ein paar echte Freunde, meinen Thalbion-Spiegel und hat zudem einen hässlichen Flugnager als Haustier. Deine Mutter hat recht. Du brauchst dringend Hilfe. Ich kenne da jemanden in Schockzahn, vielleicht könnten wir ja …«
»Cassandra!!«, mahnte Julius’ Mutter. »Denk an unsere Abmachung!«
»Ist ja schon gut«, seufzte Cassandra gelangweilt. »Ihr Vampire seid immer so ernst und humorlos. Gut … ich hab da was für dich, Kleiner. Komm her und hör genau zu, denn ich wiederhole mich äußerst ungern!«
Julius setzte sich mit leichtem Unbehagen neben die Hexe und musterte misstrauisch den seltsamen Spiegel.
»Wie du sicherlich weißt, gibt es neben eurem kleinen Kaff Gruselheim in Immernacht noch viele Orte, Landstriche, ja selbst eigene Dimensionen. Manche kannst du bequem erreichen, manche dagegen liegen sehr versteckt oder sind mit einfachen Hilfsmitteln wie eurem Vampirflug und den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zu erreichen.«
Julius hörte aufmerksam zu, obwohl ihm diese Tatsache natürlich bekannt war. Manche Bewohner von Immernacht zogen es vor, für sich zu bleiben. Die Zombie-Gemeinde zum Beispiel. Ab und zu konnte man einen Zombie in Gruselheim sehen, aber diese Typen waren ebenso schräg wie eklig und keiner konnte sie so richtig ausstehen. Beim Einkaufen hatte er in den Gruselheimer Spuk-Arkaden mal einem Zombie seinen abgefallenen Arm hinterhergetragen, worauf dieser nicht mal einen Dank übrig, sondern ihn nur mürrisch angeglotzt hatte.
»Mit diesem magischen Thalbion-Spiegel aber«, fuhr Cassandra fort, »ist es möglich, diese versteckten und manchmal gar verbotenen Orte aufzusuchen. Man braucht nur einen Gegenstand von dem Ort, den man besuchen möchte, bei sich zu tragen, durch den Spiegel zu schreiten und schon ist man da. Wichtig ist, dass du dir die Stelle merkst, an der du angekommen bist. Wenn du zurückwillst, stellst du dich an die gleiche Stelle, sprichst dein Zauberwort und du landest wieder dort, wo der Spiegel steht. Eigentlich ganz einfach – sogar für einen Vampir!« Cassandra grinste Julius neckisch an.
»Komm zum Punkt!«, mahnte Julius’ Mutter und schob Flap wieder vom Kühlschrank weg.
Cassandra rollte mit ihren dunklen Augen und fuhr fort: »Den Thalbion lasse ich euch leihweise da. Aber bedenkt: Wenn er unterwegs zu Schaden kommt, ist eine Rückkehr damit unmöglich. Es bräuchte dann einen anderen Spiegel und glaubt mir, die Dinger kauft man nicht einfach in den Spuk-Arkaden oder im Scary-Net. Wenn ihr nicht gerade in der hohen Kunst der Drachenjagd, des Exorzierens oder anderen wirklich heftigen und vor allem tödlichen Angelegenheiten bewandert seid, habt ihr eigentlich keine Chance.«
Julius musste schlucken.
»Lady Cassandra … darf ich fragen, woher Sie Ihren Spiegel haben?«, fragte er mit leiser Stimme.
»Sicher doch, mein Kleiner. Aber die Geschichte ist eigentlich nix für junge Vampire und deine Mutter wäre nicht so erpicht darauf, diese Geschichte – nun sagen wir mal – wieder zu hören.«
Es klirrte und Julius sah, wie seine Mutter einen zerbrochenen Teller vom Boden aufhob und sich mit wütendem Blick dem Abwasch zuwandte.
»Also, Kleiner, es gibt Regeln. Es sind drei an der Zahl, frag nicht wieso, das kommt von eurem Vampir-Obermacker!«
»Lord Draco«, murmelte Julius, »war ja klar. Der und seine dämliche Drei!«
»Regel Nummer eins«, sagte Cassandra mit lauter und fester Stimme, »trage immer einen Gegenstand des Zielortes am Leib! Regel Nummer zwei: Nimm niemanden durch den Spiegel mit, der nicht hindurch will, und wenn du jemanden mitnimmst, haltet dringend Körperkontakt! Regel Nummer drei und gleichzeitig die wichtigste Regel: Sprich beim Hindurchlaufen immer das Zauberwort aus. Immer! Wirklich immer, Kleiner. Das ist sehr wichtig.« Cassandra lächelte ausnahmsweise nicht und schaute Julius kurz besorgt an.
»Wieso, Lady Cassandra, was passiert denn sonst?«, quietschte Flap aufgeregt und nahm Julius damit die Frage ab.
Cassandra senkte kurz den Blick und sagte leise: »Sagen wir mal so: Das, was dann auf der anderen Seite ankommt, ist nicht das, was hineingegangen ist.« Sie fuhr sich über ihre Stupsnase und zupfte an ihrem schwarzen Kleid. »Aber ihr sagt einfach das Zauberwort und alles ist gut!«, flötete sie und lächelte. »Also, ihr Lieben. Hat Spaß gemacht. War schön, dich mal wiederzusehen, Ludmilla. Passt mir auf den Spiegel auf und viel Erfolg bei eurem magischen Roadtrip. Bis bald!«
Cassandra schien schon kurz vor ihrem Verschwindezauber zu stehen, als Julius rief: »Haaalt, wie lautet denn das Zauberwort???«
Cassandra schaute verblüfft drein. »Ach ja, stimmt. Also das ist noch mal eine besondere Angelegenheit für sich. Jeder Spiegelwanderer bekommt sein Zauberwort und eine magische Karte nur vom großen Lektor Donatus.«
»Donatus? Der Donatus?« Julius musste grinsen. »Der alte Motzknochen, der in der Bibliothek versauert?«
Da es ab und an notwendig war, für die Schule bestimmte Bücher zu leihen, kannte er den alten Donatus. Als ehemaliger Schreckritter und Veteran der alten Kriege hatte er es irgendwann mal geschafft, bei den Stadtoberen in Ungnade zu fallen. Nun leitete er die Gruselheimer Bibliothek, die er aufgrund eines Bannspruches nicht verlassen konnte. Um ihn rankten sich viele Gerüchte; er war nicht gerade für seine Freundlichkeit bekannt. Vor allem Kindern und Jugendlichen gegenüber.
»Genau der. Unterschätze ihn nicht, Kleiner. Er ist ein muffiger alter Zauberer, aber er ist auch der Meister der Worte und Zaubersprüche. Er hat immer noch die Aufsicht, was magische Portalreisen und Thalbion-Nutzungen angeht. Kurzum – willst du den Spiegel nutzen, musst du bei Meister Donatus vorsprechen.«
Julius schaute seine Mutter an und kratzte sich am Hinterkopf. »Aber … der Typ ist echt schräg und zudem ein kauziger Säufer. Gibt es keinen anderen Weg, den Spiegel zu nutzen?«
Cassandra seufzte. »Kleiner, keine Ahnung, was du ausgefressen hast, aber wenn der alte Draco und deine Mutter mich am selben Tag nerven, muss es wichtig sein. Wenn du den Trip machen willst – was ich dir aus mehreren Gründen raten würde –, dann ist dein erstes Ziel der alte Donatus!« Damit strich sie sich eine schwarze Strähne aus dem ebenholzfarbenen Gesicht. »Der alte Kastalius Anselm Donatus. Ja, er nippt mit Vorliebe an einem Gläschen Blutwein. Aber das kommt euch ja sicherlich bekannt vor, oder?«
Cassandra grinste frech zu Ludmilla, die das mit einem mehr als giftigen Blick quittierte. Julius war sich sicher: Wäre seine Mutter eine dieser gefürchteten Desparius-Hexen, wäre Cassandra in Sekundenschnelle in einer Staubwolke vergangen. Was war bloß zwischen den beiden Frauen vorgefallen? Bestimmt hatte es mit seinem Vater zu tun.
»Ihr findet Donatus in der Bibliothek in Gruselheim«, riss ihn Cassandras Stimme aus den Gedanken. »Aber sei gewarnt, Julius. Der alte Tunichtgut wird dir das Passwort nicht ohne Weiteres geben. Donatus liebt es, wenn man etwas dringend von ihm braucht, weil er dann seine blöden Spiele und Wetten mit einem machen kann. Sollte er dich abweisen, was höchstwahrscheinlich der Fall sein wird, sagst du ihm einfach, Lady Cassandra schickt dich. Er wird dich anhören, versprochen. Er schuldet mir noch einen Gefallen. Sollte er betrunken oder wütend oder im schlimmsten Fall beides sein, dann gibst du ihm das hier.«
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