Jessica Strang
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Illustrationen: Sandra Vorholzer
Druck: Printed in Germany
ISBN: 978-3-946843-77-1
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© Tagträumer Verlag 2020
Die Seelenlicht
Chroniken
Mickal & Hannah
Katrin Gindele
Für Franzi,
weil du einer der wundervollsten Menschen bist,
die ich kennenlernen durfte.
Prolog
Ich spürte ihren eindringlichen Blick und fragte mich, was ihr wohl gerade durch den Kopf ging.
»Pass auf dich auf«, sagte sie mit einem Lächeln, das gezwungen wirkte. Ihre Sorge um mich, um uns alle, konnte sie nur schwerlich hinter diesem Lächeln verbergen. »Und tut mir leid wegen des Zauberfeuers«, setzte sie nach, »denn du darfst es leider nicht mitnehmen.«
Warum eigentlich nicht?
Ich fragte sie nicht danach, sondern trat einen Schritt vor, um mich von ihr umarmen zu lassen. Sie zitterte am ganzen Körper, ihre Haltung zeugte jedoch von unermesslichem Stolz. Diese junge Frau, so klein und zierlich sie mir auch vorkam, hatte mehr Willensstärke bewiesen als mancher Krieger.
»Mach dir um mich keine Sorgen«, versuchte ich sie zu beruhigen. Um mich musste man sich nicht sorgen, das war in meinen Augen völlig unnötig, denn bis jetzt hatte ich noch jeder Herausforderung getrotzt.
Ihre sanften Augen suchten erneut meinen Blick, als sie den Kopf hob und mich ansah. »Wir sehen uns wieder«, beschwor sie mich. »Eines Tages werden wir uns wiedersehen. Versprichst du es?«
»Natürlich«, nickte ich und erwiderte ihr zaghaftes Lächeln. »Wie könnte ich der Kraljica einen Wunsch abschlagen?«
»Mickal!« Sie trat einen Schritt zurück, während sie das Gesicht verzog. »Nenn mich nicht so«, tadelte sie mit strenger Miene. Doch dann seufzte sie leise, was mich ein bisschen verlegen machte. »Komm einfach wieder nach Hause, okay?«
Kapitel 1
»Du musst etwas essen.« Behutsam führte ich die Schüssel mit heißer Gemüsebrühe an ihre bleichen Lippen. »Nur ein paar Löffel«, beschwor ich sie.
Doch ihre Lippen blieben geschlossen.
Ich seufzte. »Mom, wenn du nichts essen willst, dann werde ich Dr. De Luca rufen, damit er dir eine Infusion verpasst. Ich scherze nicht. Nicht diesmal. Das ist mein voller Ernst.«
Ganz langsam hob sie den Kopf, ihre Augen wanderten in meine Richtung. Wenn Mom mich ansah, dann war es, als würde ich in einen Spiegel der Zukunft blicken. Ihre wunderschönen kupferfarbenen Haare, die in leichten Wellen bis über ihre Schultern fielen. Ihre großen blauen Augen, so strahlend wie ein Sommertag. Mom war eine wunderschöne Frau. Doch auch wenn wir uns so ähnlich sahen, gab es einen gravierenden Unterschied, der mich furchtbar ärgerte. Während mein Gesicht übersät war von unzähligen kleinen Sommersprossen, hatte Mom eine Haut wie eine Porzellanpuppe. Das war so ungerecht.
»Mom, komm schon«, bat ich, als sie noch immer keinerlei Anstalten machte, den Mund zu öffnen. »Verdammt noch mal, du bist nicht die Einzige, die trauert!«
Ihr Blick war fest auf mich gerichtet, doch sie schien mich nicht zu sehen. Ihre Augen sahen durch mich hindurch, als würde ich überhaupt nicht existieren. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, meine Gedanken wanderten zurück zu jener verhängnisvollen Nacht, als wir beide einen Teil unserer Familie verloren hatten.
Mein Vater und mein Bruder waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Das Auto war in einer Kurve von der Straße abgekommen, hatte sich mehrfach überschlagen und war in Flammen aufgegangen. Für Dad und Tony war jede Hilfe zu spät gekommen.
Das war vor über fünf Jahren gewesen. Bis heute hatte niemand eine Erklärung dafür, was in jener Nacht tatsächlich passiert war.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte unsere Familie in Slowenien gelebt, wo ich den Großteil meiner Kindheit verbracht hatte. Eigentlich waren wir ständig umgezogen, nicht nur von einer Stadt zur nächsten, sondern meistens gleich in ein anderes Land. Inzwischen beherrschte ich fünf Sprachen und konnte zwei weitere zumindest so gut sprechen, dass es in Slowenien für einen halbwegs vernünftigen Schulabschluss gereicht hatte.
Nach dem Tod meines Vaters und meines Bruders waren wir wieder umgezogen, diesmal nach Italien. Mom hatte es damals furchtbar eilig gehabt. Kaum zwei Wochen nachdem Dad und Tony beerdigt worden waren, war unser Haus verkauft, die Tiere an einen ortsansässigen Bauern abgegeben und unsere schönen alten Möbel bei einem Antiquitätenhändler in Zahlung gegeben worden. Außer meinen Klamotten, ein paar Büchern und einem Kuscheltier aus meiner Kindheit – ein kleiner Stoffhase – durfte ich nichts mitnehmen.
Zu diesem Zeitpunkt schien es tatsächlich so, als würde sich Mom wieder erholen. Sie hatte ein Haus für uns direkt am Meer gekauft, mit einem kleinen Garten und einer Veranda. Während der nächsten Monate hatte sie ihre ganze Energie in die Renovierung gesteckt, hatte neue Möbel besorgt und ein Gemüsebeet angelegt. Nach einem halben Jahr hatte unser Leben wieder Stück für Stück ein gewisses Maß an Realität angenommen, eine Art Leben danach.
Doch der Schein hatte getrügt, wie ich sehr bald herausfinden musste. Mom war es nicht besser gegangen. Nicht ein bisschen.
Die ganze Zeit über hatte sie ihre Trauer vor mir verborgen, so lange, bis ihre Kräfte schwanden. Sie schien zu altern, in einer Geschwindigkeit, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte. Von einem Tag auf den anderen war ihre feurige Mähne von einzelnen grauen Strähnen durchzogen, um ihre Augen hatten sich immer mehr kleine Fältchen gebildet. Ich hatte praktisch dabei zusehen können, wie Mom stetig älter wurde. Und dann war der Tag gekommen, an dem sie so schwach war, dass sie das Bett hüten musste. Seitdem hatte sie ihr Bett kaum noch verlassen.
Äußerlich sah sie trotz der grauen Strähnen und kleinen Fältchen keinen Tag älter aus als fünfundvierzig, doch innerlich schien sie zu sterben, ganz langsam. Jeden Tag ein bisschen. Und ich wusste einfach nicht, wie ich ihr helfen sollte.
Beinahe kam es mir so vor, als wäre ein Teil von ihr an jenem Tag zusammen mit Dad gestorben. Und der andere Teil würde ihm schon bald folgen.
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als Mom unerwartet den Mund öffnete.
»Braves Mädchen«, lobte ich und schob den Löffel behutsam zwischen ihre Lippen.
»Rede nicht mit mir, als wäre ich ein kleines Kind«, murmelte sie. »Ich bin immer noch deine Mutter.«
»Dann verhalte dich auch so!«, rutschte es mir heraus.
Es war immer dasselbe: Meine Klappe war schneller als mein Hirn. Dadurch hatte ich schon zweimal den Job verloren, weil ich immer aussprechen musste, was mir gerade durch den Kopf ging.
»Tut mir leid«, entschuldigte ich meine unbedachte Wortwahl. »Aber du machst es mir in letzter Zeit wirklich nicht einfach.« Als Mom nichts erwiderte, setzte ich nach: »Du weißt, dass ich es nicht so gemeint habe. Manchmal rede ich einfach drauflos, ohne vorher zu überlegen.«
Da lächelte sie. Ein winziges, kaum wahrnehmbares Lächeln. »So warst du schon immer«, stellte sie fest. »Noch nie hast du dich darum geschert, was andere von dir denken. Und das ist auch gut so.«
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