Angesichts der (selbst-)zerstörerischen Dynamik einer entfesselten Bedürfnis-Ökonomie kommt einer Wiederentdeckung aszetischer Spiritualitäten also auch gesamtgesellschaftlich große Bedeutung zu. Dabei geht es nicht um eine Abwertung der Lebenskräfte, wie Nietzsche es dem Christentum (oft zurecht) unterstellte, sondern um einen schonenden Umgang mit ihnen. Sarah Coakleys Entwurf einer asketischen Dogmatik lässt sich in diesem Kontext lesen. Angesichts des neoliberalen Mythos, dass alle Begierden prinzipiell und möglichst umgehend befriedigt werden können, lasse sich in Gebet und Aszese lernen, dass es neben der Bedürfnisbefriedigung sinnvolle Zeiten der Enthaltsamkeit gibt. Dazu greift Coakley gendersensibel und psychoanalytisch informiert auf Traditionen vormoderner asketischer Theologie zurück, beispielsweise auf Gregor von Nyssas Vorstellung eines „Begierdetrainings“, bei welchem man sich lebenslang dazu verpflichtet, die „Langstrecke“ der ständigen persönlichen Transformation einzuschlagen und die Bedeutung jedes Begehrens stets im Lichte Gottes zu reflektieren. 7Dabei geht es nicht um die Abtötung sinnlicher Leidenschaften, sondern um die zeitweilige Suspension ihrer Befriedigung, welche es ermöglicht, gerade diese Leidenschaften intensiviert auf Gott auszurichten. Solch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Begehren sieht Coakley als Teil des Weges zu einem (niemals abgeschlossenen) geistlichen Wachstum. 8
Um gleichzeitig einer Funktionalisierung Gottes für menschliche Interessen entgegenzuwirken, legt Coakley den Nachdruck auf die theologische Arbeit der je neuen Korrektur idolatrischer Tendenzen im Gleichschritt zur spirituellen Öffnung für die Lebendigkeit Gottes und die Dynamik seiner je größeren Liebe. 9Im Sinne des Glaubens der Kirchenväter an die mystische Vereinigung der Seele mit Gott und der damit verbundenen Vergöttlichung des Menschen postuliert Coakley eine Transformation der menschlichen Begehrensstruktur durch die Teilhabe am innertrinitarischen Leben, weshalb das Gebet im Geist, die liturgische Praxis und ikonografische Darstellungen zum Ausgangspunkt nicht nur der Trinitätslehre, sondern auch des Begierdetrainings werden. Man habe sich dies so vorzustellen, dass Betende in der Kontemplation, gerade wenn sie versuchen, innerlich still und leer vor Gott zu werden, mit all ihren Sehnsüchten und Verlangen konfrontiert werden, ohne diese direkt befriedigen zu können. 10Das bewusste Ausharren in der Wahrnehmung unerfüllter Begierden ermöglicht es, diese zu hinterfragen, neu zu ordnen und auf Gott hin auszurichten – sie verlieren die Herrschaft über das eigene Leben. 11Coakley sieht damit die Kontemplation als eine mühsame und entbehrungsreiche Arbeit und ritualisierte Übung, fernab irgendwelcher Gefühle spiritueller Wellness oder mystischer Ekstase. 12Doch kommt es ihr zufolge im Ergebnis solchen Gebets zu einer Öffnung des Geistes hin zu einer neuen Weltsicht, in der alles Verlangen auf Gott hin umgepolt und die Empfänglichkeit für alles Schöne unendlich intensiviert ist. 13In diesem Sinne gibt die mystische Vereinigung der Seele mit Gott Aufschluss über die gottgewollte Bedeutung und Einordnung eines bestimmten Begehrens in einen größeren Gesamtzusammenhang.
Ignatianische Aszese nach Erich Przywara SJ
Bezieht sich Coakley neben patristischen Quellen vor allem auf die karmelitische Mystik des Johannes vom Kreuz, so wollen wir in diesem Aufsatz den besonderen Beitrag der ignatianischen Spiritualität zur gegenwärtigen Diskussion um menschliches Begehren hervorheben, wird diese doch zurecht als „Spiritualität des Liebens“ bezeichnet. 14Während sich Coakleys Ansatz auf die mystische Vereinigung mit Gott in kontemplativer Stille konzentriert, liegt der Schwerpunkt bei Ignatius auf der Konkretisierung dieser Vereinigung in grundlegenden Lebensentscheidungen, aber auch im Alltag. 15Ignatianische Spiritualität bezeichnet eine „‚Auskehr‘ der gottgeeinten Seele in das Alltagsleben, um mitten in Leben und Arbeit Gott zu finden“ 16. In der ignatianischen Spiritualität geht Kontemplation dem aktiven Handeln in der Welt nicht voraus, sondern vollzieht sich in der Aktivität, weshalb von einem „Durchbruch (…) hin zu einer Spiritualität, die die Sendung in die Welt und die Mystik der Tat betont“, gesprochen werden kann. 17Der Aszese kommt hier eine wichtige Rolle zu, insofern ignatianische Spiritualität die Vereinigung mit Gott weniger mit mystischer Ekstase als mit einer Teilhabe „am Abstieg der Göttlichen Majestät in das Joch mit und zwischen und unter Geschöpfen“ assoziiert. 18„Es geht um ein Sterben aus der Welt für eine stärkere Sendung in die Welt hinein“ 19, um aszetische Weltentsagung, die mit einer „Mystik der Weltfreudigkeit“ verbunden ist, wie Hugo Rahner es fasst. 20Ignatianische Spiritualität strebt das „immer größere Durchbrechen der Glorie“ in der Entsagung an (DSM 135 f.).
Bei der Frage um die Ausrichtung menschlichen Begehrens auf Gott steht ignatianisch zunächst grundlegend die Entscheidung bezüglich des „Fahneneids“ zum Heere Gottes oder Satans auf dem Spiel: Ob ich also mein Leben jener Macht unterstelle, die in die Freiheit führt, oder jener anderen, die durch Verführungen in die Enge treibt. 21Dementsprechend kann der Mensch aus rationaler wie emotionaler Einsicht in die damit verbundene Freiheit wählen, sein Leben auf Gott auszurichten. Nur ein auf Gott ausgerichtetes Leben ist wahrhaft frei, wohingegen Welt- und Eigenliebe als letzter Bezugspunkt stets zu einem „Haftenbleiben“ an etwas Endlichem verleiten (DSM 18; 41). In anderen Worten schadet Eigennutzorientierung nicht nur der Umwelt und Gemeinschaft, sondern auch der individuellen Freiheit.
Gleichwohl soll das aszetische Zurückstellen eigener Begierden nicht aus dem Verlangen nach Freiheit, sondern immer wieder neu aus einem „lang geübten, reich gelebten [Gott-]Vertrauen“ geboren werden (MD 74). In diesem Vertrauen gründend wird die ignatianische Aszese durch das positive Verlangen angetrieben, das eigene Leben der je größeren Ehre Gottes in allem und durch alles zu widmen, wodurch der Mensch seinerseits geheilt wird (DSM 111). Dieses Verlangen ist somit keine Reaktion auf einen Mangel – an Heil und Erlösung –, sondern es nährt sich aus der Ahnung des „unerforschlichen Geheimnisses“ des menschlichen Daseins und Wesens, „dass der ‚Gott über dir‘ in dir dein Glück ist“ (MD 34). Die gleichzeitige Erfahrung von Seligkeit in und mit Gott einerseits und eigener geschöpflicher Nichtigkeit andererseits sind Ausgangspunkt ignatianischer Aszese (DSM 136 f.). Wie vor allem in der „Betrachtung zur Erlangung der Liebe“ (GÜ 230–237) am Ende der Exerzitien hervorgehoben, geht es darum, an dem durch Gottes Großmut geschenkten und beschenkten Leben nicht selbstsüchtig oder ängstlich festzuhalten, sondern es im Empfangen großmütig weiterzuverschenken. 22
Vor diesem Hintergrund besteht der Sinn der Exerzitien darin, „sich selbst zu überwinden und sein Leben zu ordnen, ohne sich bestimmen zu lassen durch irgend eine Hinneigung, die ungeordnet wäre“ (GÜ 21). In den Geistlichen Übungen soll Gott selbst in der Seele des Menschen wirken, „d.h. Sehnsüchte und Hinneigungen des Empfängers von dessen Innen aus ordne[n] und wandel[n]“ (DSM 35 f.). Der von Przywara gezogene Gegensatz zwischen einer ausschließlichen Ausrichtung menschlicher Begierden auf Gott und einem Verfolgen eigener Ziele ist insofern nicht selbst- und weltverachtend, als es lediglich um die letzte Zielrichtung menschlicher Sehnsüchte geht. Przywara spricht zwar von einer „Aszese des Entgegentuns“ gegen die eigene weltliche und sinnliche Liebe und von einer „Aszese des Aus-sich-heraus-springens“ (vgl. GÜ 189) aus Eigenliebe und -belang (DSM 107 ff.). Doch lehnt Przywara nicht die Eigenliebe als solche, sondern lediglich die Eigenliebe als letzte Zielrichtung des Lebens, also die Egozentrik, ab. 23Genauer bewahrt die Ausrichtung auf Gott Menschen davor, ihr Leben auf eines der beiden Extreme festzulegen: Eigenliebe oder Selbstverachtung (DSM 108 ff.). Das an Gott ausgerichtete Leben schwingt zwischen diesen beiden Extremen hin und her, schließt sie beide ein, aber bleibt an keinem haften. Setzt ein Mensch Selbstaufopferung oder Eigenliebe als letzte Zielrichtung des Lebens, wird sein Leben von diesem Ziel bestimmt und an dieses gebunden; folglich entbehrt er der Fülle der Freiheit, die man nur im „Pendelschwung“ zwischen den beiden Extremen erfahren kann. 24Erlösung in der Entsagung bedeutet also, dass die „Übergabe an den ‚lebenliebenden‘ Gott“ zur „tiefsten Kraft kräftigen Lebens“ wird, „weil sie, den letzten Krampf angsthafter Selbstbehauptung lösend, königliche Freiheit und beinahe göttliche Leichtigkeit der Seele verleiht“ (MD 74 f.).
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