Heilung erkrankter Sexualität in der Bibel
Personwerdung, zu der sexuelles und spirituelles Reifen gehört, ist ein sensibler Prozess. Geistliches Wachstum und Integration der Sexualität beeinflussen sich nicht nur im Positiven gegenseitig, sondern können sich auch gegenseitig blockieren, so dass es zu ernsthaften Erkrankungen kommt. Religion, Glaube und Spiritualität können sich so ausschließlich am Geistigen und an Idealen orientieren und mit der Ablehnung von Leiblichkeit und Sexualität einhergehen, dass sexuelle Dysfunktionen die Folge sind. Im Kleid des frommen Suchens ist diese schädliche Spiritualitätsform nicht immer leicht zu erkennen. Auch eine starre, internalisierte Norm- und Regelfrömmigkeit kann zu Sklerotisierung und Zwanghaftigkeit führen. Religiös-archaische Vorstellungen von Heiligkeit, verbunden mit Sehnsucht nach unbefleckter Reinheit, können eine lebendige Entwicklung verhindern. Oft steckt dahinter eine traumatische Erfahrung, die durch religiöses Verhalten in Schach gehalten wird. Sigmund Freud hat die neurotische Funktion von Religion bekanntlich meisterhaft durchschaut, in seiner Religionskritik dann allerdings das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Auch die Bibel thematisiert solche Formen der Erkrankung, zeigt aber Wege der Heilung auf, die gerade durch eine vertiefte Gottesbeziehung und ein spirituelles Leben gelingen können.
Da ist einerseits das Buch Tobit, das nach katholischer Auffassung zum Alten Testament gehört. Es ist als Heilungsnovelle zu lesen: Tobias wird von seinem alten kranken Vater Tobit, der in erstarrter Gesetzesfrömmigkeit erblindet ist, mit dem Auftrag fortgeschickt, ein Erbe auszulösen. Unterwegs begegnet Tobias einem Engel mit Namen Raphael, was so viel bedeutet wie „Gott heilt“. Dieser führt ihn zur jungen Sara, die an völlig verstörter Sexualität leidet: Schon sieben Mal hat ihr Vater, ein Bruder Tobits, sie einem Mann zur Frau gegeben, und immer ist ihr der Mann in der Hochzeitsnacht beim ehelichen Vollzug gestorben. Nun soll Tobias mit ihr die Ehe eingehen. Raphael rät Tobias, einen Fisch zu fangen, dem er Galle, Herz und Leber entnehmen soll. Mithilfe von Leber und Herz werde er in der Hochzeitsnacht die Männer tötende Sara heilen und mit der Galle seinen blinden Vater wieder sehend machen können. In der tiefenpsychologischen Deutung, in der ich hier Eugen Drewermann folge, ist der Fisch ein Phallussymbol. 6Er steht im Text für die gezügelte Sexualkraft des jungen Tobias. Dieser heiratet Sara, bringt aber getreu Raphaels Rat erst die Organe des Fisches als Rauchopfer dar und bittet Gott inständig um seinen Segen, ehe er mit Sara schläft – nicht aus Begierde, sondern aus Liebe, wie er betont. Diese humanintegrierte Sexualitätdes Tobias, zusammen mit dem Gottvertrauen in den Engel Raphael, wirkt umfassend heilsam. Seine Schwiegereltern, die während der Hochzeitsnacht bereits das Grab für ihn geschaufelt haben, sind am nächsten Morgen überrascht, dass er lebt und ihre Tochter Sara geheilt ist. Auch als Tobias mit seiner Frau zum Vater Tobit zurückkehrt, wird dieser von seiner Blindheit geheilt. Die junge Sara und der alte Tobit sind in der Novelle als aneinander Erkrankte zu sehen: Die junge Frau kann ihre Sexualität nicht leben, weil sie von Tobit, ihrem Onkel, in einem religiös zwanghaften Familiensystem gefangen ist, das ihn selbst krank gemacht hat. Die 14 Kapitel des Buches Tobit beschreiben also mit legenden- und märchenhaften Motiven die Heilung einer Frau durch Gottvertrauen, Gebete und Ritual, die in einer religiös-erstarrten Familie ihre Sexualität verloren hat.
Das Johannesevangelium wiederum erzählt in nur gerade 19 Versen ganz verdichtet, wie Jesus einer Frau begegnet, die bereits mit dem sechsten Mann zusammenlebt. (Joh 4,7–26) Ihrer Sexualkraft ist offensichtlich die Beziehungs- und Bindungsfähigkeit abhanden gekommen. Daher ist sie auch sozial ausgegrenzt. Sie kommt in der Mittagshitze allein zum Brunnen, um Wasser zu schöpfen, was Frauen sonst normalerweise gemeinsam am Morgen und Abend tun. Als Jesus ihr in Aussicht stellt, dass in ihrem Inneren eine geistige Quelle sprudeln könnte, will sie diese sofort haben. Ihre Sehnsucht ist groß. Da aber fragt Jesus sie nach ihrem Intimleben. Sie wird gleichsam auf die Couch gelegt und muss erzählen. Sie sagt nicht alles, doch was sie sagt, ist in „Wahrheit“ gesagt, wie Jesus hervorhebt. Diese Aussprache in Zweisamkeit ist Voraussetzung für ihre Heilung. Sie wird ihre erotisch-sexuelle Strebekraft nicht weiter von Mann zu Mann schweifen lassen, sondern richtet sich spirituell-religiös aus. So beginnt sie mit Jesus über interreligiöse und Glaubensfragen zu sprechen: Wo muss man anbeten, in Jerusalem oder auf dem Garizim? Auch hier geht es um „Geist und Wahrheit“ und um Gebet. Dabei wird ihr klar: Vor ihr steht in Jesus die „persönliche“ wie „allgemeine“ Wahrheit, der siebte Mann wie der von Gott Gesalbte. Er sagt zu ihr: „Ich bin es, ich der mit dir spricht.“ (Joh 4,26)
Die Frau findet durch ihn zu Wahrhaftigkeit im Leben und findet zugleich Antworten auf ihre Glaubensfragen. Auch in dieser Erzählung sind die Zahlen symbolisch zu lesen. Die Frau findet im siebten Mann ihre Fülle. Dass es um eine Liebesbeziehung geht, wird durch die Szene am Brunnen expliziert. Seit Rebekka, die Frau für Isaak, am Brunnen gefunden wurde (Gen 24), besteht der literarische Topos der Liebesbegegnung am Brunnen in der hebräischen Literatur. In Joh 4 ist die Bewegung vom Erotisch-Sexuellen auf das Erotisch-Spirituelle hin eindeutig, wobei es bis zuletzt um eine innige Beziehung zwischen Jesus und der Frau geht. Jesus zeigt sich in diesem Text zugleich als Therapeut, welcher der Frau hilft, über ihr sexuelles Leben zu sprechen, und als spiritueller Begleiter, der existenzielle Glaubensfragen anspricht. Wie an mehreren Stellen im Johannesevangelium erweist sich das Wasser als Heilmittel, wenn es im Sinne Jesu, des neuen Jakob geistlich erfasst wird. 7
Treue im Dienste sexueller Reifung
In beiden biblischen Texten geht es darum, Beziehungen wiederherzustellen, sei es unter Menschen, sei es mit Gott. Bekanntlich sehen Judentum wie Christentum die Ehe als Rahmen für sexuelle Beziehungen, auch wenn ihre Ausformungen unterschiedlich sind. Gemäß röm.-kath. Lehre und Kirchenrecht dient die Ehe nicht mehr nur der Zeugung von Kindern. Sie steht auch im Dienst sexuell gelebter Liebe. 8Auf das frei gesprochene Ja-Wort wird deshalb viel Wert gelegt, ebenso auf die Treue. Für die Frage nach persönlicher sexueller und spiritueller Entwicklung ist beides fundamental: die Partnerschaft auf Augenhöhe aus freiem Konsens und das treue Zueinanderstehen in „guten wie in schlechten Tagen“, wie es im Eheschließungsritus heißt. Die Institution der Ehe soll Rahmen und Schutz sein, die den unumgänglich lustvollen, aber auch konfliktreichen inneren Wachstumsprozess eines Paares ermöglicht. Sie hilft in Ernüchterung und Krise nach der idealisierenden Verliebtheitsphase und gibt Halt, so dass auch gegenseitig die Abgründe und dunklen Seiten angenommen werden können. Jede Idealisierung aber schadet der Ehe. Es geht nicht ohne Umwege. Versöhnung gehört auch nach Untreue immer dazu. So will die Ehe ein heilsamer Rahmen sein, um täglich aneinander zu wachsen, auch was die Sexualität betrifft. Die Sehnsucht nach erfüllter Liebe lässt ein Paar auch in der Ehe über sich hinaus auf eine Gottesbeziehung hin wachsen. So kann die Beziehung von Mann und Frau auf die Beziehung mit Gott verweisen bzw. die Liebe Gottes zum Menschen erst vergegenwärtigen. Daher spricht die Kirche vom Ehesakrament. Die gelebte Ehe stellt also einen spirituellen Übungsweg dar. Treue steht letztlich im Dienst einer ganzheitlichen, erotisch-sexuellen, spirituellen und persönlichen Reifung des Ichs am Du, am mitmenschlichen wie am göttlichen Du. Das Christentum ist eine Beziehungsreligion. In Beziehung tritt der Mensch aber immer mit seiner ganzen Leiblichkeit und seinem Begehren, aus sich herauszutreten, sich hinzugeben und einem ebenso offenen Gegenüber zu begegnen. Zu dieser Schöpfungswirklichkeit der Beziehung gehört Erotik und Sexualität. Im Wachsen der Beziehungswirklichkeit zwischen zwei liebenden Menschen und im Sich-Hingeben ohne sich zu verlieren, scheint die Beziehung zur Transzendenz und zu Gott durch. Die Beziehung zu Christus und die Liebesbeziehung mit Gott stellen aus christlicher Perspektive zudem den metaphysischen Horizont und den asymptotischen Punkt für menschliches Beziehungsstreben dar.
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