Die Nestlé & Anglo-Swiss reagierte auf diese neuen Marktbedingungen, indem sie einerseits bedeutende Vorräte an Waren und Rohmaterialien anlegte, um sich vor Lieferungsengpässen und kurzfristigen Preissteigerungen auf Rohmaterialien zu schützen. 221Andererseits begann sie ab 1915 mit amerikanischen Milchunternehmen Verträge abzuschliessen, um deren Kondensmilch unter den eigenen Marken in Europa verkaufen zu können. 222
Als sich die Milchknappheit in der Schweiz im Winter 1916/17 allerdings dermassen zuspitzte, dass die Nestlé & Anglo-Swiss mehrere Schweizer Milchsiedereien schliessen musste und die enorme Nachfrage nach Kondensmilch von den bisherigen Fabrikationsstandorten aus – die sich hauptsächlich in Europa befanden 223– nicht mehr befriedigt werden konnte, geriet Nestlés Hegemonie auf den Kondensmilchmärkten Europas und in den europäischen Kolonien zunehmend in Gefahr: Amerikanische Unternehmen begannen ihre Kondensmilch nach Europa zu exportieren, während australische Gesellschaften auf den Exportmärkten im Fernen Osten tätig wurden. 224
Da den kooperierenden US-Gesellschaften die Mittel fehlten, um ihre Produktionskapazitäten auszuweiten, entschied sich die Nestlé & Anglo-Swiss am 6. September 1917, eine bedeutende Delegation nach Amerika zu schicken, um mit Borden über die Auflösung der geografischen Marktaufteilung von 1905 zu verhandeln, welche auf dem Abkommen aus dem Jahr 1902 beruhte. Das Schweizer Unternehmen sollte damit die Möglichkeit erhalten, der Milchknappheit durch die Übernahme und den Ausbau ihrer verbündeten Milchunternehmen in den Vereinigten Staaten zu begegnen. Am 27. Dezember 1917 wurde mit Borden schliesslich eine Lösung 225gefunden, welche Nestlé sowohl die Fabrikation von Kondensmilch in Nordamerika als auch den Eintritt in den amerikanischen Kondensmilchmarkt ermöglichte. Damit war das Startsignal für den Aufkauf zahlreicher amerikanischer Unternehmen durch die Nestlé & Anglo-Swiss gegeben:
Mit der Hires Condensed Milk Company in Philadelphia und der John Wildi Evaporated Milk Company in Columbus erwarb Nestlé 27 Fabriken, welche etwa acht Millionen Kisten Kondensmilch produzierten. Damit hatte Nestlé ihre Produktionskapazitäten auf einen Schlag verdoppelt, doch der enorme Expansionsdrang war damit noch nicht beendet. Bis 1920 übernahm das Unternehmen mit der International Condensed Milk Company, der Wisconsin Milk Company, der Alpine Milk Company 226sowie sechs weiteren Milchsiedereien insgesamt weitere 18 Fabriken in den Vereinigten Staaten. 227
Zeitgleich mit der Expansion nach Amerika schloss Nestlé auch mit verschiedenen australischen Unternehmen wie der Baccus March Concentrated Milk Company Kontrakte ab, in denen sich diese bereit erklärten, ihre Produkte unter Nestlés Marken zu verkaufen. Die Abkommen brachten für beide Parteien Vorteile: Nestlé konnte damit eine ernsthafte Gefährdung ihrer Stellung auf den südostasiatischen Märkten verhindern, andererseits konnten die australischen Unternehmen ihre Kondensmilch unter der Marke Milkmaid teurer verkaufen als unter den eigenen Marken, da diese als Qualitätsprodukt wahrgenommen wurde. 1920 übernahm Nestlé die australischen Unternehmen schliesslich. 228Ein Jahr später gründete Nestlé 1921 mit dem Bau einer Milchfabrik in Araras (Brasilien) ebenfalls ihre erste industrielle Niederlassung in Lateinamerika. Sie stellte die erste Produktionsanlage des Unternehmens in den Tropen dar, wo die Milchproduktion noch praktisch inexistent war. 229
Die Expansion nach Amerika stellte einen Wendepunkt in der Geschichte der Nestlé & Anglo-Swiss dar. Während sich die Produktion des Unternehmens bis 1916 schwerpunktmässig auf die Schweiz, Norwegen und Grossbritannien konzentriert hatte und die Nestlé & Anglo-Swiss von dort aus ein Milchimperium aufgebaut hatte, welches Europa und seine Kolonien umfasste, veränderten sich die Verhältnisse bis 1919 grundlegend: Die Vereinigten Staaten entwickelten sich neu zum wichtigsten Produktionsstandort des Unternehmens, wo Nestlé nun fast die Hälfte der Kondensmilch herstellte, während die Schweiz ihre einstige Bedeutung auf diesem Gebiet verlor. Grossbritannien blieb zwar weiterhin ein beachtlicher Produktionsstandort und wichtigster Absatzmarkt des Unternehmens, verlor gegenüber anderen Produktionsstandorten in Amerika und Australien aber ebenfalls an Gewicht. Die aussergewöhnliche Produktionsverlagerung ist dabei auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass Nestlé damals glaubte, ihre führende Stellung auf den Weltmärkten nur dann langfristig halten zu können, wenn sie in den Vereinigten Staaten tätig wurde. Denn die amerikanische Milchindustrie stellte zu jener Zeit rund dreimal mehr Kondensmilch her als die aller anderen Länder der Welt, hatte diese allerdings aufgrund der grossen Binnennachfrage nicht in grösserem Umfang ins Ausland exportiert. 230
Die geografische Verlagerung der Produktion nach Nordamerika und Australien durch die Übernahme zahlreicher Milchunternehmen sowie die grossen Waren- und Rohstoffvorräte sicherten der Nestlé & Anglo-Swiss während des Ersten Weltkriegs genügend grosse Kondensmilchmengen, um ihre Vormachtstellung in Europa und den Kolonien in Afrika und Asien zu behaupten. Zwischen 1916 und 1920 konnte Nestlé die Produktionskapazitäten fast verdoppeln. 231
Auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit nahm die Nachfrage nach Kondensmilch weiter zu, obschon mit dem Waffenstillstand von 1918 die Armeeaufträge ausblieben. Dies liess bei Nestlé die Hoffnung auf eine langfristige Zunahme des Kondensmilchkonsums keimen. 1919 wurde daher eine neue Verkaufszentrale in Paris gegründet, die als Pendant zur Londoner Exportzentrale nach Übersee die Überwachung aller kontinentalen Märkte zum Ziel hatte. Zudem wurde die auf Expansion ausgelegte Geschäftspolitik in Europa und Nordamerika weitergeführt. Die Unternehmensführung war sich dabei der Risiken einer temporären Überproduktion zwar bewusst, der Wachstumskurs blieb jedoch unbestritten, denn nur so glaubte das Unternehmen seine hegemoniale Stellung gegenüber der Konkurrenz verteidigen zu können. 232Den enormen Kapitalbedarf von über 150 Millionen Schweizer Franken für die Firmenübernahmen in den Vereinigten Staaten und Australien beschaffte sich das Unternehmen durch eine Aufstockung des Aktienkapitals von 60 Millionen Schweizer Franken auf 205 Millionen Schweizer Franken und zusätzlichen Obligationenanleihen von 45 Millionen Schweizer Franken.
Gleichzeitig erholte sich die Milchwirtschaft in weiten Teilen Europas jedoch von der kriegsbedingten Krise und begann nun gewaltige Milchmengen zu erzeugen. Dies traf insbesondere in den Niederlanden zu, wo während des Ersten Weltkriegs grosse Flächen Ackerland in Weideland umgewandelt worden waren. Die Abnahmeverträge mit den Bauern zwangen die Nestlé & Anglo-Swiss nun, weiterhin deren gesamte Milchproduktion zu kaufen, wodurch die Waren- und Rohstofflager überproportional zum Umsatz wuchsen. Nestlé sah sich dadurch plötzlich mit einer Überproduktion konfrontiert.
Die gewaltige Ausweitung der Produktionskapazitäten und die steigenden Waren- und Rohstofflager, die während des Kriegs die Versorgungssicherheit garantiert hatten, führten 1920 zu einem äusserst labilen Finanzgleichgewicht. Den Guthaben und Besitzbeständen, die zu einem grossen Teil in Beteiligungen an US-Fabriken (110 Millionen Schweizer Franken) und Warenvorräten (220 Millionen Schweizer Franken) fixiert waren, standen Schulden und Obligationsanleihen in Wert von 377 Millionen Schweizer Franken gegenüber.
Währenddessen mehrten sich die Anzeichen, dass die Nachfrage nach Dauermilch empfindlich abnehmen würde: Zum einen begann der Grossteil der Bevölkerung, der während des Kriegs Kondensmilch oder Milchpulver konsumiert hatte, wieder Frischmilch zu trinken. Einzig in den europäischen Grossstädten und Industriegebieten, wo die Frischmilch von schlechter Qualität war, blieb die hohe Nachfrage nach Kondensmilch aufrecht. Zum andern wies die aus Amerika importierte Kondensmilch teilweise qualitative Mängel auf, was das Industrieprodukt in Europa bald in einem schlechten Licht erscheinen liess. Weitere Kunden verlor Nestlé 1921, als die steigende Inflation in Europa zu einer Aufwertung des US-Dollars führte und die in Amerika hergestellte Kondensmilch des Unternehmens gegenüber der europäischen Konkurrenz eine zusätzliche Verteuerung erfuhr. 233
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