Trotz dieser Schwachstelle in Nordamerika war Nestlé im Vergleich zu anderen Schweizer Milch- und Schokoladeunternehmen nicht nur grösser, 199sondern auch internationaler aufgestellt: Während die Berneralpen Milchgesellschaft oder die Schweizerische Milchgesellschaft Hochdorf ihre Milchprodukte vor allem nach Afrika und Asien exportierten, 200waren Schokoladeunternehmen wie Suchard 201oder die 1911 aus der Fusion von Cailler und Peter & Kohler entstandene Peter-Cailler-Kohler 202aufgrund der Hitzeempfindlichkeit ihres Produkts vor allem in Europa und Nordamerika aktiv. 203Die Nestlé & Anglo-Swiss dagegen vertrieb sowohl Kondensmilch in den Kolonien als auch Kindermehl und Schokolade in Europa.
Der Erste Weltkrieg und die Krise in der Nachkriegszeit – Nestlé schlittert knapp am Konkurs vorbei
Kondensmilch, Kaffee und Kakao an der Kriegsfront
Nachdem sich bis 1914 eine globale Weltwirtschaft ausgebildet hatte, erlebte der internationale Warenverkehr mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs einen abrupten Rückschlag. 204Vielfach wird zwischen 1914 und 1945 von einer Periode der «Deglobalisierung» gesprochen. Der wachsende Nationalismus und Protektionismus führten zu einem Rückgang des Welthandels, 205die Lebensmittelindustrie wurde immer mehr durch politische Einflüsse gesteuert und die Nationalität eines Unternehmens zur politischen Angelegenheit. 206Auch Firmen von neutralen Staaten wie der Schweiz gerieten auf schwarze Listen 207von Krieg führenden Parteien und wurden durch ihre internationale Vernetzung zunehmend in die Kriegswirren verstrickt:
Während das auf Deutschland ausgerichtete Schokoladeunternehmen Suchard in Frankreich angefeindet wurde, geriet Nestlé aufgrund der starken Verflechtung mit Grossbritannien bei den Deutschen bald in Ungnade. Um den Schaden in Grenzen zu halten, fasste die Nestlé & Anglo-Swiss ihre Fabriken in Lindau und Hegge im Dezember 1914 in einer neuen Tochtergesellschaft unter dem Namen «Das Milchmädchen Kondensmilch GmbH» zusammen und löste diese teilweise von der Muttergesellschaft ab. Ebenso wurde die Kondensmilch nun nicht mehr unter der Marke Milkmaid, sondern Milchmädchen verkauft, beides um in Deutschland die Spuren der Nestlé nach England zu verwischen. 208Auch in anderen Ländern wie Frankreich, Österreich, Norwegen und Südafrika gründete Nestlé daraufhin angesichts des zunehmenden Nationalismus und Protektionismus eigene Tochtergesellschaften. 209
Neben diesen politisch motivierten Attacken brachte der Erste Weltkrieg für die Schweizer Milch- und Schokoladeindustrie aber auch Vorteile mit sich: Viele Unternehmen wiesen durch die steigende Nachfrage der Armee und Zivilbevölkerung nach ihren Produkten einen sehr zufriedenstellenden Geschäftsgang auf. Die gezuckerte Kondensmilch der Nestlé & Anglo-Swiss gehörte ab 1915 zur Notration der britischen Soldaten, was den Bedarf nach Kondensmilch bei den britischen Streitkräften sprunghaft von 181 000 Kisten auf 903 000 Kisten ansteigen liess und das Westschweizer Unternehmen an die Grenzen seiner Produktionskapazitäten brachte. 210Zudem bewarb Nestlé ihre Kondensmilch bei der Zivilbevölkerung als gefragtes Nahrungsmittel in Soldatenpaketen, damit diese an der Front den Tee mit Milch geniessen konnten. 211
Aber auch die Zivilisten selber mussten immer öfter auf Dauermilchprodukte wie die Kondensmilch zurückgreifen: 212Weil die Soldaten ein Mehrfaches an Fleisch konsumierten als in Friedenszeiten und der Fleischpreis dadurch gegenüber dem Milchpreis anstieg, schlachteten viele Bauern ihre Kühe, statt ihre frische Milch zu verkaufen. 213Das Frischmilchangebot wurde dadurch immer knapper, was der Nestlé & Anglo-Swiss den Zugang zu neuen, bedeutenden Kundenkreisen ausserhalb der städtischen Ballungszentren erschloss, wo Kondensmilch bis 1914 praktisch unbekannt geblieben war. Nestlés Kondensmilchumsatz vervierfachte sich dadurch bis 1919, womit Europa und insbesondere Grossbritannien zum bedeutendsten Absatzmarkt des Unternehmens aufstieg. 214
Ebenso erreichten auf den Britischen Inseln die Umsatzzahlen von Nestlés aromatisierten Kondensmilchsorten Coffee & Milk und Cocoa &Milk neue Dimensionen: Bewegten sich die Verkaufszahlen vor dem Krieg noch unter 20 000 Kisten pro Jahr, schnellten sie 1915 auf 99 000 Kisten an. 215Dabei wurden die beiden Instantgetränke auch in kleineren Mengen der britischen Armee geliefert. 216
Nachdem Coffee & Milk 1912 in Ashbourne (Grossbritannien) wesentlich verbessert werden konnte, 217wurde das Produkt in Grossbritannien nun als «Kaffee, wie man ihn in Paris geniesst» unter der Marke Milkmaid Café au lait verkauft. «It is not an essence or anything of that sort – simply the finest, freshly roasted Coffee expertly made with rich, full-cream milk which brings out the exquisite, natural aroma of the Coffee, and sugar added. Far nicer than ordinary Coffee, easy to prepare – only boiling water required – and most economical because it saves the cost of both milk and sugar», 218wurde der Milchkaffee in den Werbeannoncen bereits damals von den minderwertigen Kaffee-Essenzen klar abgehoben und mit Argumenten beworben, die später auch für Nescafé verwendet werden sollten.
Dabei ist der Aufschwung von Milkmaid Café au lait und seinem kakaohaltigen Pendant Milkmaid Cacao au lait im Zusammenhang mit der allgemeinen Popularisierung von Kakaoprodukten und Kaffeepulver als Stärkungsgetränke der Soldaten zu sehen. Neben Milkmaid Café au lait in Grossbritannien existierten während des Ersten Weltkriegs zahlreiche weitere Instantkaffeemarken wie Belna in Frankreich oder Ruwil und Cefabu-Pulverkaffee im Deutschen Reich. 219Die bedeutendste Instantkaffeemarke im Ersten Weltkrieg war aber der amerikanische G. Washington’s Coffee. Die «Tasse George», wie sie von den US-Soldaten auch genannt wurde, profitierte davon, dass der Röstkaffee durch die Senfgasangriffe der Deutschen vergiftet worden wäre und Kaffee somit nur als Instantkaffee in hermetisch verschlossenen Dosen an die Truppen abgegeben werden konnte. Wie Briefe von der Front berichten, entwickelte sich dieser bei den US-Soldaten in den Schützengräben zu einer äusserst willkommenen Abwechslung. 220
Abbildungen 2 und 3: Werbeanzeigen aus dem Jahr 1915 für Milkmaid Café au lait in Grossbritannien. Der Milchkaffee der Nestlé & Anglo-Swiss wurde während des Ersten Weltkriegs als anregendes, Kräfte freisetzendes Getränk für die Soldaten an der Front sowie als günstiges, praktisches und nährreiches Produkt für Zivilisten vermarktet.
Nestlés gewagte Expansionsstrategie zur Sicherung seiner Marktstellung
Der Erste Weltkrieg eröffnete den Herstellern von Kondensmilch, Kaffee- und Kakaogetränken nicht nur gesicherte Absatzbedingungen durch die stetig steigende Nachfrage in den Krieg führenden Ländern. Die Kampfhandlungen erschwerten auch den internationalen Warenverkehr. Besonders der uneingeschränkte U-Boot-Krieg der Deutschen blockierte die Transportwege auf den europäischen Meeren und führte zu einem gewaltigen Preisanstieg auf Rohmaterialien.
Aufgrund der Schwierigkeiten bei der Rohstoffbeschaffung verschlechterten sich die Qualität und die verfügbaren Mengen auf den Milch-, Kaffee- und Kakaomärkten zusehends: An die Stelle von Kaffee und Kakao traten immer öfter Kaffeesurrogate von fragwürdiger Qualität, welche dem Ruf des Zichorienkaffees schadeten, sowie minderwertiger «Kakao-Tee» aus Kakaoschalen. Ausserdem nahm die Milchproduktion in der Schweiz – von wo aus Nestlé etwa einen Drittel ihrer Milchdosen exportierte – aufgrund von politischen Massnahmen und fehlenden Futtermitteln für die Kühe stetig ab, was schliesslich selbst im damals bedeutendsten Milchexportland zu einer Milchknappheit führte. Anfang November 1915 ermächtigte die Schweizer Regierung das Volkswirtschaftsdepartement, die Kondensmilchproduktion zeitweilig oder dauerhaft einzustellen, um die dadurch freiwerdenden Milchmengen zur Versorgung der städtischen Bevölkerung mit Trinkmilch verwenden zu können.
Читать дальше