1868 lancierte er Nestlé’s Kindermehl gleichzeitig in der Schweiz und in seiner Heimatstadt Frankfurt am Main, wo sein Produkt sofort einen guten Ruf genoss. 142Obwohl die Schweiz, Deutschland und Frankreich in den ersten Jahren die bedeutendsten Absatzmärkte waren, wurde Nestlés Kindernahrung rasch auch ausserhalb Europas bekannt: 1873 wurde Nestlé’s Kindermehl erstmals auf allen fünf Kontinenten verkauft, unter anderem in den Vereinigten Staaten, Russland, Australien, Argentinien, Ägypten und Niederländisch Indien. 143
Nestlés Erfolg brachte den Verwaltungsrat der Anglo-Swiss auf den Gedanken, ebenfalls ein Kindermehl herzustellen. 144Dabei trafen zwei Konkurrenten mit sehr unterschiedlichen Unternehmensphilosophien aufeinander: Die Anglo-Swiss Condensed Milk Company lässt sich als Grossunternehmen charakterisieren, wie es Chandler in «Scale and Scope» 145beschreibt. Ihr Erfolg beruhte auf der Massenproduktion, indem sie ein qualitativ gutes Produkt rationell herstellte und sich aufgrund ihrer Grösse und Kapitalkraft eine Monopolstellung sichern konnte. 146Andererseits wies das Unternehmen mit Sitz am Zugersee bei der Vermarktung und im Bereich der Innovation Defizite auf: George Page hielt nicht viel von Werbung und ging sehr sparsam damit um, 147gleichzeitig fehlte der Gesellschaft das nötige physiologische und chemische Wissen, um beispielsweise Kindermehl selber herzustellen. Die Technik musste deshalb 1877 durch die Übernahme einer Kindernahrungsmittel-Fabrik in Flamatt eingekauft werden. 148
Demgegenüber besass die von Henri Nestlé gegründete Gesellschaft zwar nicht das Kapital 149und die Grösse 150einer Anglo-Swiss, verfügte dafür über wissenschaftlich fundiertes technisches Wissen und vermochte damit eine Marke mit hoher fachlicher Anerkennung aufzubauen. 151Nestlé operierte zwar mit bescheideneren Umsatzzahlen als die Anglo-Swiss, dafür aber mit höheren Gewinnmargen. 152
Bereits 1878 erhielt der Angriff der Anglo-Swiss auf das Kindermehl der 1875 in eine Aktiengesellschaft umgewandelten Farine Lactée Henri Nestlé 153allerdings einen argen Dämpfer: Ein Jahr nach der Übernahme brannte die Kindermehlfabrik in Flamatt ab, womit die Diversifikationsanstrengungen der Anglo-Swiss auf diesem Gebiet geplatzt waren. 154Ebenso scheiterte der Versuch, Nestlé zu kaufen, während George Page das Angebot einer gemeinsamen Fusion kategorisch ablehnte. 155
Weit gravierender war jedoch, dass sich die Nestlé den Angriff auf ihr Kindermehl nicht bieten liess und im Gegenzug ins Kerngeschäft der Anglo-Swiss vordrang, indem sie ebenfalls gezuckerte Kondensmilch zu produzieren begann. Von diesem Moment an entbrannte ein erbitterter Konkurrenzkampf zwischen den beiden Unternehmen: Die Anglo-Swiss versuchte aufgrund ihrer Skalenerträge, Nestlé in einen Preiskampf zu verwickeln, und senkte ihre Preise um 2 Franken 40 Rappen pro Kiste, worauf das Unternehmen aus Vevey mit einem noch tieferen Preis konterte, was sich das Unternehmen aus Vevey aufgrund der Gewinne mit Kindermehl leisten konnte. Ausserdem strahlte die starke Marke, welche sich Nestlé im Bereich des Kindermehls aufgebaut hatte, auch auf das Kondensmilchgeschäft aus. Umgekehrt gelang es der Anglo-Swiss nicht, eine gut durchdachte Werbekampagne zu organisieren. Viele Detaillisten beklagten sich über die nervöse Preis- und Markenpolitik der Anglo-Swiss und wandten sich vom Unternehmen ab, was sich auch auf die Umsatzzahlen niederschlug: Zwischen 1885 und 1890 konnte Nestlé ihren Kondensmilchumsatz verdreifachen und auf Kosten der Anglo-Swiss Marktanteile gewinnen, während der Absatz des Chamer Unternehmens in derselben Zeitspanne um einen Drittel einbrach. 156
Der Konkurrenzkampf zwischen Nestlé und der Anglo-Swiss zeigt, dass Skalenerträge alleine noch kein Erfolgsrezept sein mussten und technisches Wissen und der Aufbau von starken Marken mindestens ebenso wichtig sein konnten. Wie der nächste Abschnitt zeigen wird, schlitterte die Anglo-Swiss durch die Defizite in den beiden letztgenannten Bereichen immer mehr in die Krise, die schliesslich zur Fusion mit Nestlé führte.
Verpasste Chancen und die Fusion zur Nestlé & Anglo-Swiss
Durch die Urbanisierung, neue ernährungswissenschaftliche Erkenntnisse und Konservierungstechniken entwickelte sich die Milch im «Zeitalter des Hochkapitalismus» 157zum modernen Massenprodukt, 158was zu rasanten Veränderungen des Marktumfelds führte: Die Dauermilchproduktion trat Ende des 19. Jahrhunderts in ihre Wachstumsphase. Die Zahl der Konkurrenten stieg. 159Dabei verpasste es die Führung der Anglo-Swiss, wichtige Neuerungen im Bereich der Milchkonservierung frühzeitig zu erkennen: die Entwicklungen der keimfreien, ungezuckerten Kondensmilch und der sterilisierten Flüssigmilch. 160
Nachdem die Anglo-Swiss nach dem verunglückten Eintritt ins Kindermehlgeschäft zu Beginn der 1880er-Jahre auch mit der Lancierung von Malzextrakten wenig Erfolg gehabt hatte, wurde George Page gegenüber neuen Produkten zunehmend kritisch. So lehnte er beispielsweise die Idee seines Mitarbeiters Johann Meyenberg ab, eine sterile, ungezuckerte Kondensmilch auf den Markt zu bringen. Dieser wanderte daraufhin nach Amerika aus, wo sich die ungezuckerte Kondensmilch als «Evaporated Milk» zu einem äusserst erfolgreichen Produkt entwickelte. 161
Eine zusätzliche Konkurrenz erwuchs der gezuckerten Kondensmilch zudem mit der sterilisierten Flüssigmilch, welche um 1890 zur Verpflegung der europäischen Dampfschifffahrtsgesellschaften rasch bedeutend wurde. Aus dieser Entwicklung gingen unter anderem die 1892 gegründete Berneralpen Milchgesellschaft in Konolfingen und 1895 die Centralschweizerische Natur-Milch Exportgesellschaft in Hochdorf hervor. 162
Einsichtig geworden, folgte die Anglo-Swiss 1894 ebenfalls diesem Markttrend, indem sie eine sahnehaltige Kondensmilch unter dem Namen Ideal Cream auf den Markt brachte und 1896 die norwegische Anglo-Scandinavian Condensed Milk Company mit Fabriken in Hamar und Sandesund übernahm, die sterilisierte Flüssigmilch und ungezuckerte Kondensmilch herstellte. 163
Im Gegensatz zu Nestlé, der Berneralpen Milchgesellschaft 164und der Schweizerischen Milchgesellschaft Hochdorf 165versäumte es die Anglo-Swiss zudem, sich am Aufstieg der Schweizer Milchschokolade um die Jahrhundertwende zu beteiligen, welcher mit der erstmaligen Verfügbarkeit eines geschmacklich befriedigenden Milchpulvers in direktem Zusammenhang stand. 166Vorläufer der Milchschokolade wie Cocoa & Milk und Chocolate & Milk blieben für das Chamer Unternehmen Nebenprodukte, deren Weiterentwicklung nicht als Kernaufgabe angesehen wurde. 167Stattdessen war es Daniel Peter, der in unmittelbarer Nachbarschaft zu Nestlé an der Herstellung eines Milchkaffee- und Milchkakaopulvers tüftelte und Ende der 1880er-Jahre erstmals eine feste Milchschokolade herstellte. 1681904 stieg Nestlé über eine Kooperation mit Peter ebenfalls ins aufstrebende Schokoladegeschäft ein: Das Milchunternehmen verpflichtete sich, das Kapital der Société Générale du Chocolat Peter & Kohler um eine Million Schweizer Franken zu erhöhen, dem Schokoladefabrikanten Milch zu liefern 169und den Verkauf der Schokolade im Ausland zu übernehmen. Umgekehrt war Peter & Kohler für die Schokoladeproduktion zuständig und verpflichtete sich, ebenfalls Schokolade unter der Marke Nestlé herzustellen. 1701905 kam die erste Milchschokolade unter der Marke Nestlé auf den Markt, die damals vor allem in Grossbritannien verkauft wurde. 171
Statt auf Innovation und Diversifikation setzte die Anglo-Swiss auf geografische Expansion. Ihren neuen Entwicklungsschwerpunkt sah sie in den Vereinigten Staaten, wo sie ihre Produktionskapazitäten in den 1880er-Jahren mit gewaltigen Fabrikationsanlagen erweiterte: 1721878 erstmals in Amerika tätig geworden, versuchte sie während der wirtschaftlichen Aufbruchstimmung in den Vereinigten Staaten, mit Hilfe von Grössenvorteilen die dortigen Kondensmilchmärkte zu erobern. Nachdem das Chamer Unternehmen 1882 eine erste Milchfabrik in Middletown erstellt hatte, baute sie 1889 in Dixon die damals grösste Kondensmilchfabrik der Vereinigten Staaten auf. 173
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