«Die Nestlé hat ihre grösste Expansion in einer Zeit des internationalen Protektionismus erlebt, der sie zur Errichtung neuer Fabriken in den abgeschirmten Ländern selbst zwang. In einem liberalen Handelssystem […] müssten viele gewählte Standorte der Milchkonservenfabriken als unzweckmässig gelten», 271analysierte die Zeitung «Finanz und Wirtschaft» später die Entwicklung des Schweizer Unternehmens in der Zwischenkriegszeit. Weil zugleich die Nachfrage nach Kondensmilch stagnierte, sanken durch die politisch bedingte Reorganisation der Produktionsstandorte die Skalenerträge. 272Um die Produktion und Distribution trotzdem weiter zu rationalisieren, 273weitete Nestlé ihren Tätigkeitsbereich neben der Dosenmilch auf weitere Lebensmittel aus, um die Fixkosten auf mehrere Produkte verteilen zu können und auf diese Weise «Economies of Scope» zu erzielen. 274
Ab 1927 erweiterte Nestlé ihre Produktpalette mit dem Vertrieb von Streichkäse der Gerber AG in Thun. Gegen Lizenzgebühren erhielt die Nestlé & Anglo-Swiss vom Berner Unternehmen das Recht, ihren Gerber-Schmelzkäse ausserhalb der Schweiz und der Vereinigten Staaten zu produzieren und zu vertreiben. Diese Zusammenarbeit bot sich an, da der Gerber AG das internationale Vertriebsnetz fehlte, um der steigenden Nachfrage nach Schmelzkäse im Ausland nachzukommen und sich gegen die stärker werdende Konkurrenz aus der Schweiz zu behaupten. 275
Ein ähnliches Abkommen schloss Nestlé im gleichen Jahr ebenfalls mit der Schweizerischen Milchgesellschaft in Hochdorf, die aufgrund der steigenden Handelsschranken ihre Kondensmilch nicht mehr ins Ausland exportieren konnte. 276Ausserdem beteiligte sich Nestlé 1928 am Schokoladegeschäft der Sarotti AG in Berlin und begann ab 1929 mit der Hollandia Anglo-Dutch Milk and Food Company im niederländischen Vlaardingen zusammenzuarbeiten. 277
Die verschiedenen Kooperationen ermöglichten der Nestlé & Anglo-Swiss eine Restrukturierung der Produktion und Distribution durch Wachstum ohne grosse finanzielle Risiken, bargen allerdings auch erhebliche Konfliktpotenziale: Die von der Hollandia hergestellte Kondensmilch entsprach nicht immer den Qualitätskriterien der Nestlé & Anglo-Swiss und konnte aufgrund ihrer Eigenständigkeit nur ungenügend von Nestlés Kontroll-Laboratorien untersucht werden. 278Ebenso gestaltete sich die Zusammenarbeit mit dem Schokoladeunternehmen Peter-Cailler-Kohler (PCK) immer schwieriger: Bereits während des Ersten Weltkriegs erwarb sich Nestlé vom Schweizer Schokoladeunternehmen das Exklusivrecht, seine Nestlé-Schokolade mit Ausnahme der Schweiz, Österreichs, Deutschlands und Nordamerikas in sämtlichen Ländern selber herstellen zu dürfen, weil PCK damals die von Nestlé benötigten Schokolademengen zur Sättigung der Marktnachfrage nicht bereitstellen konnte. In Ländern wie Australien begann Nestlé daraufhin eigene Schokoladefabriken aufzubauen. 279Ausserdem vertrieb die Lamont, Corliss & Co. ab 1925 ebenfalls die Nestlé-Milchschokolade, die sich in Nordamerika sofort grosser Beliebtheit erfreute. 280Ende der 1930er-Jahre stellten die Vereinigten Staaten klar den wichtigsten Absatzmarkt von Nestlés Schokolade dar. 281
Durch Nestlés wachsenden Aktivismus im Schokoladegeschäft verschoben sich die Kräfteverhältnisse mit Peter-Cailler-Kohler: Verkauften Nestlé und PCK vor dem Ersten Weltkrieg noch etwa gleich viel Schokolade, vertrieb Nestlé 1928 bereits drei Viertel der gemeinsam bewirtschafteten Schokolade, 282wobei die Nestlé-Milchschokolade in den 1920er-Jahren zur beliebtesten der vier Marken aufstieg. 283Um weiter auf dem Schokolademarkt expandieren zu können und damit verbundene Unstimmigkeiten zwischen den beiden Parteien zu verhindern, war 1928 eine Klärung der Verhältnisse in Form einer Fusion unumgänglich geworden. 284Zudem führte die Verschmelzung 1929 zu einer wesentlichen Vereinfachung der ganzen Administration im Schokoladegeschäft. 285Die Übernahme von Peter-Cailler-Kohler im Jahr 1929 ist daher als Folge des inneren Wachstums von Nestlé zu sehen und reduzierte die Transaktionskosten durch Internalisierung. Beispielsweise verlagerte Nestlé zur Kostenoptimierung die Schokoladeproduktion für den britischen Markt 1931 von der Schweiz nach England, was unter den alten Strukturen mit relativ starren Verträgen kaum möglich gewesen wäre. 286
Durch die Integration und den Ausbau von Produktsparten wie Schokolade und Schmelzkäse wuchs die Nestlé & Anglo-Swiss auch nach 1921 weiter. Gleichzeitig wurden aber auch in den eigenen Forschungslaboren neue Erzeugnisse entwickelt, mit welchen die horizontale Expansionspolitik weiter vorangetrieben wurde. 287
Darstellung 3: Nestlés Kondensmilch- und Schokoladeumsatz zwischen 1905 und 1938 war von starken Konjunkturschwankungen geprägt. Nachdem die Nachfrage nach Kondensmilch und Schokolade im Ersten Weltkrieg stark zugenommen hatte, brach der Absatz der beiden Produkte zwischen 1921 und 1923 stark ein, erholte sich in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre aber wieder, bevor er sich mit der Weltwirtschaftskrise abermals verschlechterte. Gut zu erkennen ist dabei, dass die Nestlé & Anglo-Swiss bis 1913 fast nur gezuckerte Kondensmilch verkaufte, die ungezuckerte Kondensmilch aber seit Kriegsbeginn immer bedeutender wurde und Ende der 1930er-Jahre die Hälfte des Kondensmilchumsatzes ausmachte. Ebenso wurde in der Zwischenkriegszeit ein immer grösserer Teil des Schokoladeabsatzes durch assoziierte Gesellschaften (Lamont, Corliss & Co. und Sarotti) erzielt. Insgesamt stieg der Umsatz der Nestlé & Anglo-Swiss in der Zwischenkriegszeit, aber vor allem auf den Gebieten der Schokolade und der ungezuckerten Kondensmilch, auf denen sich keine grossen Gewinne erzielen liessen.
Die Entwicklung neuer Produkte im Kindernahrungsmittel-Segment
Wie Verwaltungsratspräsident Louis Dapples an der Generalversammlung 1936 festhielt, waren die Gewinnmargen auf Massenprodukten wie Kondensmilch und Schokolade in der Zwischenkriegszeit stark geschrumpft. Zwar stellten diese Produkte nach wie vor das wichtigste Standbein des Unternehmens dar, ihr Ertrag konnte allerdings nur noch damit gesteigert beziehungsweise erhalten werden, indem das Verkaufsvolumen ausgeweitet wurde. «Gerade mit Rücksicht auf den Umstand, dass die Gesellschaft bei der Massenproduktion mit ganz kleinem Nutzen arbeiten muss, zwingt sie zum Ausfindigmachen von neuen Spezialitäten, die ihr jedoch nicht ohne Weiteres in den Schoss fallen, sondern wiederum bedeutende Forschungskosten verursachen», 288schrieb die «Schweizerische Handelszeitung» 1936 weiter.
Angefangen hatten diese Forschungsaktivitäten in den Jahren 1921/22, als im Zuge der Reorganisation des Unternehmens die bisher getrennten Forschungslaboratorien in Cham und Vevey zusammengeführt wurden und die Entwicklung neuer Produkte unter der Leitung des Norwegers Dr. Arnold Bakke erstmals systematisch vorangetrieben werden konnte. 289Die Markennamen dieser neuen Produkte-Generation wurden später oft mit dem Präfix Nes- und der Produktbezeichnung versehen, um die verwandtschaftliche Bindung mit der Nestlé-Gruppe erkennbar zu machen. 290
Eine der vordringlichsten Aufgaben der Forschung war damals, auf dem Gebiet der Kindernahrung neue Produkte zu entwickeln, denn seit 1915 waren die Verkaufszahlen von Nestlé’s Kindermehl in den Vereinigten Staaten rückläufig gewesen. Konnte der anfängliche Nachfragerückgang noch mit Preisanpassungen begründet werden, hatte der danach folgende, langsame Absatzschwund tiefere Ursachen: Das Produkt genügte den damaligen Anforderungen an ein Kindernahrungsmittel nicht mehr, 291weil es die Nestlé & Anglo-Swiss verpasst hatte, der Tendenz zu Milchpulververfahren frühzeitig zu folgen. 292
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