Wurde Milchpulver in der Schweiz zuerst vor allem zur Herstellung von Milchschokolade verwendet, 293begannen später auch immer mehr Kindernahrungsmittel-Unternehmen wie Guigoz schonende Dehydratationsverfahren bei tiefen Temperaturen zu entwickeln, dank denen die Proteine wesentlich besser erhalten blieben und die Oxidation von Vitamin C vermieden werden konnte. Damit kamen kurz vor dem Ersten Weltkrieg neue Kindernahrungsmittel auf den Markt, welche lange haltbar und trotzdem mit Proteinen und Vitaminen angereichert waren. 294Nestlé sah sich deshalb gezwungen, ihr Kindermehl durch die Beigabe von Vitaminen den ernährungswissenschaftlichen Erwartungen an ein Kindernahrungsmittel anzupassen.
1929 gelang es den Forschern von Nestlé schliesslich, Nestlé’s Kindermehl dank einem Dorschleberöl-Konzentrat 295mit den Vitaminen A und D anzureichern, welche das Wachstum und die Widerstandsfähigkeit sowie den Knochenaufbau der Säuglinge verbessern sollten. Trotzdem blieb das Kindermehl in den 1930er-Jahren weiterhin in der Kritik der Ärzte, weil durch das Erhitzen der Milch nicht nur krankmachende Keime, sondern auch wichtige Bestandteile wie die Vitamine C und B1 wesentlich reduziert wurden. Deshalb mischte Nestlé dem Kindernahrungsmittel schliesslich ebenfalls Vitamin B1 bei. 296Bei dieser Verbesserung sowie der Entwicklung weiterer diätetischer Produkte wie Pelargon, Nestrovit, Nesviton und Nestamin arbeitete Nestlé eng mit Kinderärzten und medizinischen Autoritäten sowie der Schweizer Pharmaindustrie zusammen. 297
Ab 1921 begann sich Nestlé aber auch intensiv mit der Herstellung von Kindernahrungsmitteln auf der Basis von Milchpulver 298zu beschäftigen. Im Zentrum standen dabei zwei Verfahren, welche Nestlé durch die Akquisition der australischen The Baccus March Concentrated Milk Company sowie der norwegischen Firma Egron aus Christiania erworben hatte. Denn Milchpulver hatte gegenüber Kondensmilch und Kindermehl den entscheidenden Vorteil, dass sich die Dosierung einfacher gestaltete. 299
Vom Milch- zum Kaffeepulver – Nestlé bringt Nescao, Milo und Nescafé hervor
Nestlés erste Schritte mit Milchpulver und pulverisierter Kindernahrung
Nestlés erstes Kindernahrungsmittel auf der Basis von Milchpulver wurde 1921 unter der Marke Lactogen vertrieben, welche durch die Übernahme der australischen The Baccus March Concentrated Milk Company zum Unternehmen gestossen war. Das speziell für Kleinkinder präparierte Milchpulver, dessen Zusammensetzung der Muttermilch angenähert worden war, wurde damals auf dem Prinzip der Walzentrocknung hergestellt, welches auch zur Herstellung von Milchschokolade verwendet wurde. 300Nestlé verkaufte und bewarb Lactogen vor allem in den tropischen Gebieten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. 301In Europa dagegen wurde die australische Pulvernahrung für Kinder nicht allzu stark vermarktet, weil dies negative Vorurteile gegenüber der gezuckerten Kondensmilch hätte hervorrufen können, die damals die wichtigste ökonomische Stütze des Unternehmens war. 302
Parallel dazu bot die Nestlé & Anglo-Swiss von Norwegen aus das Milchpulver Molico an, welches explizit nicht als Kindernahrung verkauft wurde, sondern zur Zubereitung von Kaffee, Tee und Kakao sowie zur Herstellung von Milchglacen empfohlen wurde. 303Anders als Nestlés bisherige Verfahren beruhte die Milchtrocknung von Molico nicht auf der Vakuum- oder Walzentrocknung, sondern auf einem Sprühtrocknungsverfahren, welches sich das Schweizer Unternehmen 1916 mit der Übernahme der Firma Egron erworben hatte. 304Mit dem Egron-Sprühtrocknungsverfahren, welches um 1910 von den beiden Norwegern Gustav Jebsen und Christian Finckenhagen entwickelt worden war, konnte im Gegensatz zu anderen Milchtrocknungsmethoden eine Verklumpung der Milchtröpfchen verhindert werden, indem der zerstäubten, noch flüssigen Milch ein Strahl von sehr heisser, komprimierter Luft entgegengesetzt wurde und die Milch somit augenblicklich trocken war. 305Das Verfahren hatte den entscheidenden Vorteil, dass die Trocknung so schnell stattfand, dass keine chemischen Reaktionen auftraten, welche den Geschmack verändert hätten. Ausserdem wurde die Trockenmilch durch die schnelle Trocknung wesentlich länger haltbar. 306
1925 patentierte Nestlé deshalb neben Lactogen ein auf der Egron-Sprühtrocknung basierendes Kindermilchpulver unter der Marke Nestogen. Allerdings verhielt sich die Unternehmensführung auch bei diesem Kindernahrungsmittel sehr zögerlich bei der Einführung, weil sie Nestogen als ernsthafte Konkurrenz für die gezuckerte Kondensmilch betrachtete. 307Erst als die Nestlé & Anglo-Swiss während der Weltwirtschaftskrise ihre dominante Stellung auf dem britischen Kondensmilchmarkt verlor, 308wurde Nestogen 1930 schliesslich als neues Kindernahrungsmittel auf den Markt gebracht. 309Ebenso entschied sich Nestlé erst 1931 zur weltweiten Lancierung des sprühgetrockneten Milchpulvers Molico, um dem schleichenden Wechsel von Kondensmilch zu Milchpulver Rechnung zu tragen. 310Allerdings blieb Nestogen der sofortige Durchbruch verwehrt: Zu viele Milchpulver existierten bereits auf dem Markt. Um das Produkt von anderen abzuheben, mischte Nestlé ihm 1932 zusätzliche Kohlenhydrate in Form von Dextrin, Maltose und Saccharose bei, welche damals von Schweizer und deutschen Kinderärzten empfohlen wurden. Erst dadurch konnte sich Nestogen schliesslich durchsetzen. 311
Parallel zu Molico und Nestogen beabsichtigte Louis Dapples, mit Hilfe der Egron-Sprühtrocknung weitere Produkte in Pulverform herzustellen. 312Bereits in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre versuchte Nestlé in ihren Forschungslaboren auch Milkmaid Café au lait als Pulvergetränk aufzuwerten, 313welches zusammen mit dem Kakaogetränk Nescao unter der Marke Nescafé eine neue Generation von Kaffee- und Kakaopulvergetränken bilden sollte. 314In den nächsten drei Teilkapiteln wird aufgezeigt, wie aus der Kondensmilch mit Kaffeearoma schliesslich Nescafé entwickelt und weitere Kakao- und Malzgetränke wie Nescao und Milo aus der Milch- und Kindernahrungsmittel-Industrie abgeleitet wurden.
Nescao und der Einstieg in den Bereich der Kakao- und Malzgetränke
Neben Milchpulver und Kindermehl wurden ebenfalls Kakao- und Malzgetränke als Kindernahrungsmittel propagiert. Dank van Houtens Verfahren konnte der Fettgehalt von Kakaopulver wesentlich reduziert werden, wodurch das Produkt auch von Kindern, Kranken und alten Menschen als Stärkungsmittel getrunken werden konnte. 315Auf diese Weise entwickelte sich das Kakaogetränk in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts langsam zum nahrhaften und gesunden Frühstücksgetränk für jüngere Frauen und Kinder. 316Dabei wurde der Kakao als belebende, stärkende und erfrischende Alternative zum «entnervenden», krank und bleich machenden Kaffee oder Tee beworben. 317Ebenso entstanden bereits im 19. Jahrhundert Malzprodukte wie Mellin’s Food for Infants and Invalids oder Horlick’s Malted Milk, die als Stärkungsmittel für Kinder und Kranke galten. 318
Der Übergang zwischen Kindernahrungsmittel und stärkendem Frühstücksgetränk war dabei fliessend: In Südfrankreich mischte Nestlé seiner Kindernahrung ebenfalls Kakao bei, andererseits verkaufte die Konkurrenz ähnliche Mischungen als malz- oder kakaohaltige Frühstücksgetränke. 319Dabei begannen sich die kakaohaltigen Frühstücksgetränke in den 1920er-Jahren immer mehr vom herkömmlichen Kakaopulver abzugrenzen, indem sie neben Zucker und Kakao auch Voll- oder Magermilch sowie besondere Mehle, Mineralsalze und Vitamine enthielten. Der billige Kakao wurde somit veredelt und zum stärkenden oder aufbauenden Getränk weiterentwickelt. 320
Aufgrund dieser Konstellation war es naheliegend, dass Nestlé ebenfalls auf dem Gebiet der Kakao- und Malzgetränke tätig wurde. Zu Beginn der 1920er-Jahre brachte das Unternehmen in Anlehnung zu Horlicks Malzgetränk Nestlés Malted Milk auf den Markt. Die Mischung aus Milchpulver und Malzextrakten verkaufte Nestlé im ganzen Britischen Empire. 321
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