Betrachten wir nun genauer, welche Inhalte diese Programme vermitteln. Strukturell ist häufig ein Dreischritt festzustellen:
der Aufbau einer eigenen Achtsamkeitspraxis
die Integration in das eigene professionelle Handeln
und darauf aufbauend die Weitervermittlung an Schülerinnen und Schüler.
In der ersten Phase findet die Vermittlung der meditativen Basisübungen (Atemmeditation, Bodyscan, Gehmeditation und/oder eine Form der Bewegungsmeditation) statt, welche auch aus dem MBSR-Programm bekannt sind. Hinzu wird oft ein Schwerpunkt auf die «Übung zur Entwicklung von Mitgefühl» (Metta-Meditation / pali, «liebende Güte») gesetzt, da die wohlwollende, fürsorgliche Haltung sich selbst und anderen gegenüber sowohl als Resilienz- wie auch als Beziehungsfaktor im schulischen Kontext eine entscheidende Rolle spielt. Hinzu kommen Übungssequenzen im Alltag: eine Alltagstätigkeit mit Achtsamkeit verrichten (Hausarbeit, Essen, Radfahren, Treppensteigen …). Auch wird ein kurzes Innehalten über den gesamten Tagesablauf als Pausenstruktur – nach dem stressreduzierenden «Sägezahnprinzip» (vgl. Harrer 2013, S. 132) – oft mit im Alltag wiederkehrenden Remindern verbunden (rote Ampeln, Wartezeiten an Haltestellen, Hochfahren des Computers etc.). Diese Erinnerungsfunktion wird in manchen Programmen auch durch den Einsatz von Apps oder ein gegenseitiges «Peer»-Innehalten per SMS-Kommunikation übernommen.
Hinzu können selbstreflexive (Beobachtungs-)aufgaben ergänzt werden:
Sinn und Ausrichtung der eigenen Entwicklung zu hinterfragen, stellt nach dem israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923−1994) einen wichtigen Parameter in der Stressbewältigung dar (in Esch 2013).
Reflektieren der Lernbiografie ermöglicht durch das Bewusstwerden der eigenen Prägungen die von Heinrich Dauber (2016) als gesundheitsförderlich beschriebene «Distanz zur eigenen Lernbiografie».
Ethische Leitlinien für das eigene professionelle Handeln zu formulieren, um anstelle des von aussen gesetzten Rahmens der spirituellen Traditionen eine selbstentwickelte, richtungsweisende Unterstützung zu geben.
In der zweiten Phase findet die Integration in den schulischen Kontext statt, wobei der Aufbau einer achtsamen Kommunikation oft eine Brücke von der kontemplativen Praxis zum Handeln bildet. Übungsformate sind der achtsame Dialog (vgl. Einsichts-Dialog, Kramer, 2009), Elemente der gewaltfreien Kommunikation (Rosenberg, 2016) oder nichtwertender Kommunikation (Lohmann, 2013).
Hinzu kommen auf den schulischen Kontext abgestimmte psychoedukative Elemente der Stressreduktion und die Beobachtung des eigenen professionellen Handelns: Was sind für mich schwierige kommunikative Situationen, welche Emotionen treten im Schulalltag auf und wie gehe ich mit ihnen um, welche Inhalte hat meine Kommunikation gegenüber Schülerinnen und Schülern, Eltern/Kollegen, was projiziere ich auf Schülerinnen und Schüler und welche Emotionen liegen zugrunde, gebe ich mir und Schülerinnen und Schülern genügend Zeit, über Fragen und/oder Aufgabenstellungen nachzudenken …?
In der dritten Phase werden die Inhalte bestehender Programme erfahrungsbasiert vorgestellt, Grundlagen der Didaktik vermittelt und das Anleiten von Übungen im situativen Probehandeln gefeedbackt. Fortbildungen arbeiten auch mit Super- oder Intervision, um unmittelbare Rückmeldungen zu geben.
Dieses Vorgehen ermöglicht eine fundierte Vermittlung auf Basis der eigenen persönlichen Entwicklung, welche seit den Ergebnisse der Hattie-Studie (2009) wieder in den Fokus der LehrerInnenausbildung gerückt ist. Um die Tiefe der stattfindenden Prozesse zu verdeutlichen, folgt der Portfolioeintrag eines Studenten: «Auf einer tieferen Ebene ermöglichen mir die Achtsamkeitsübungen, in die Annahme dessen, was ist, zu kommen und auch mich selbst immer mehr anzunehmen. In dieser tieferen Annahme, so ist mein Eindruck, mag auch das zarte und scheue aber irgendwie auch nicht zu unterdrückende wahre Innerste meines Wesens sich immer mehr zeigen, was wunderschön ist. Mit etwas Abstand wird mir auch bewusst, dass all mein erlittener Schmerz durch ein ‹Sich-diesem-innersten-Wesen-in den-Weg-Stellen› zustandekam.» Und eine Studentin ergänzt: «Das Achtsamkeitsseminar hat mich dazu gebracht, so tiefgründig und genau über mich und meine Persönlichkeit, mein Wirken nach aussen nachzudenken wie noch nie» (Student, Portfolio in Krämer 2019, S. 78).
Wege der Implementierung von Achtsamkeit
Bei der Weitervermittlung in der Schule gibt es zwei unterschiedliche Ansätze:
Implementierung von Achtsamkeit durch externe KursleiterInnen
Achtsamkeitstrainings für Lehrpersonen zur Selbstfürsorge und als Basis der Weitervermittlung
Beide Ansätze haben Vor- und Nachteile und können auch miteinander kombiniert und ergänzt werden. Im ersten Fall kann die Einführung durch eine noch nicht bekannte Person, frei von bisherigen Beziehungen und beidseitigen Einordnungen geschehen. Hier ist jedoch die Grundvoraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung, dass zumindest eine Lehrperson der geschulten Klasse die Achtsamkeitspraxis gutheisst und sie weiterführt.
Dieser entscheidende Faktor ist natürlich ganz anders gegeben, wenn die zweite Variante gewählt wird. Auch kann in dieser Form die Vermittlung an die Schülerinnen und Schüler in einer ganz anderen Bandbreite erfolgen, vom erläuterten Vorleben einer achtsamen Haltung im Schulalltag, welche das Lernen am Vorbild ermöglicht, über die Integration von kurzen Elementen in den bestehenden Lehrplan bis hin zur expliziten Unterweisung in Achtsamkeit.
Ein 14-köpfiges Autorenteam, unter ihnen einige der führenden Entwicklerinnen und Entwickler von Achtsamkeitsprogrammen an US-amerikanischen Schulen (Meiklejohn et al. 2012), untersuchte in einem Artikel anhand der vorhandenen Programme ebendiesen Ansatz. Ihr Fazit war, dass der «entwickelte Sinn für Präsenz, verkörpert von der Lehrperson in den alltäglichen Klassenzimmeraktionen und Lernstrategien (…), eine weitergehende und nachhaltigere Wirkung auf das Bildungssystem hat.» Er braucht das eigene, erfahrungsbasierte Lernen der Lehrpersonen. Die eigene Achtsamkeitspraxis bietet den Boden für eine Vermittlung.
Achtsamkeitsprogramme für Schülerinnen und Schüler und deren Auswirkung
In den derzeit veröffentlichten Achtsamkeitsprogrammen für Schülerinnen und Schüler finden sich dieselben Bausteine wie in den Phasen der Lehrpersonenfortbildungen wieder, nur alters- und hörerinnenzentriert aufbereitet und an die Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler angeknüpft. Hierzu kommen in Phase 1 und 2 – insbesondere für die jüngeren Kinder – Achtsamkeitsübungen mit einem sinnlichen Fokus: Übungen, die auf das Hören ausgerichtet sind (Geräusche, Musik), mit haptischen Elementen arbeiten (Steine, Massagen, Barfusspfad) oder Möglichkeiten des nichtwertenden Sehens kultivieren (Vordergrund – Hintergrund, Lenkung des Fokus).
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