Björn Nölte / Philippe Wampfler
Eine Schule ohne Noten
Neue Wege zum Umgang mit Lernen und Leistung
ISBN Print: 978-3-0355-1966-2
ISBN E-Book: 978-3-0355-1967-9
1. Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© 2021 hep Verlag AG, Bern
hep-verlag.com
John Maynard Keynes: Allgemeine Theorie der Beschäftigung,des Zinses und des Geldes (1936)
Einleitung: Lernen muss nicht bewertet werden
Erinnern Sie sich daran, wie Sie lesen gelernt haben? Oder jonglieren? Programmieren, kochen, joggen oder fischen? Wenn ja, dann sind damit sicher auch Erinnerungen an Fehlschläge, Erfolgserlebnisse und Freude über das eigene Können verbunden. Aber wohl kaum Bewertungen. Wirksame Lernprozesse haben viel mit Entwicklungen, Förderung, Fehlerkultur und Kompetenzerleben zu tun – und praktisch nichts mit Bewertungen. Fällt der fünfte Ball beim Jonglieren immer und immer wieder auf den Boden, dann wissen wir, dass wir unser Ziel noch nicht erreicht haben. So ist es mit allem nachhaltigen Lernen: Wer wirklich lernt, holt sich in den richtigen Momenten Rückmeldungen ein, denkt über das eigene Lernen nach – aber weiß letztlich selbst, ob und wann die gesetzten Ziele erreicht sind.
Wenn das jemand von außen feststellt, führt das zum Abbruch des Lernens. Eine Note markiere das Ende des Lernens, stellt der Bildungsforscher John Hattie in seiner großen Studie über wirksamen Unterricht fest.[1] Noten oder auch verbale Beurteilungen würden von Schülerinnen und Schülern schnell durchschaut: Sie helfen ihnen nicht, ihr Lernen voranzubringen. Die wichtigen Prozesse, die Lernende voranbringen, erfolgen alle, bevor eine Arbeit abgegeben, eine Prüfung geschrieben oder ein Lernprodukt bewertet wird.
Lernen ist nicht auf Bewertungen angewiesen. Wenn also Unterricht gute Umgebungen für Lernprozesse schaffen soll, dann muss er sich auf das beschränken, was vor Abgabe und Klausur liegt; auf all das, was Lernenden hilft, ohne dass sie bewertet werden. Auf den Punkt gebracht: Unterricht wird ohne Prüfungen und Noten besser.
Diese Vorstellung ist aber vielen Lehrerinnen und Lehrern fremd. Sie befürchten, dass Lernen an Verbindlichkeit verliert, wenn keine Prüfungen mehr nötig oder möglich sind. Ihr Argument: Auch wenn die entscheidenden Aktivitäten vor einer Leistungsüberprüfung stattfinden, so sind Kinder und Jugendliche nur deshalb motiviert, diesen Aktivitäten nachzugehen, weil es eine Leistungsüberprüfung gibt. Lehrkräfte, die so denken, stützen sich oft auf ihre Erfahrungen in Fächern, Kursen oder Phasen ohne Prüfungen. Sie beobachten, dass Schülerinnen und Schüler da Aufgaben aus dem Weg gehen und nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit an ihren Lernprozessen arbeiten.
Diese Erfahrungen werden aber alle in einer Prüfungskultur gesammelt, welche Unterricht an Prüfungen und Noten ausrichtet. Haben Schülerinnen und Schüler verinnerlicht, dass Noten Lernprozesse beurteilen, dann werden sie beim Wegfall von Beurteilungen sofort den Eindruck erhalten, der Unterricht habe wenig Bedeutung, wenn keine Noten gemacht werden. Die Motivation von Lernenden, ohne Noten aktiv zu sein, kann nur beurteilt werden, wenn konsequent auf Noten verzichtet wird. Entscheidend ist, dass man nicht einfach Noten entfernt und das alte System beibehält. Diese Veränderung muss sich auch auf die Lernkultur erstrecken. An die Stelle des Noten-Bewertungssystems muss eine Form von Verbindlichkeit und Feedback treten, die von allen Beteiligten (Lernenden, Lehrenden, Eltern, weiterführende Bildungsinstitutionen und Betrieben) ernst genommen wird. Das erste Kapitel, «Wo es Unterricht ohne Noten gibt», zeigt anhand konkreter Beispiele, dass in diesem Fall die hier skizzierten Befürchtungen nicht begründet sind.
Gleichwohl muss Lernen in einen verbindlichen Dialog eingebunden werden. Auch wenn Prüfungen und Notengebung Lernprozesse abrupt beenden, so stellen sie doch eine Art Antwort auf das dar, was Schülerinnen und Schüler machen. Allerdings eine falsche Antwort – die richtige führt zu einem Lerngespräch. Sie beschreibt, fragt nach, denkt weiter, fordert heraus. All das tun Prüfungen nicht: Sie brechen ein Gespräch ab, statt es in Gang zu bringen. Eine sinnvolle Antwort ist Feedback, eine Rückmeldung. Sie zeigt Schülerinnen und Schülern, dass ihr Lernen wichtig ist, dass andere Menschen sich dafür interessieren, dass Probleme besser gelöst werden können, wenn mehrere Menschen gemeinsam darüber sprechen. Gespräche über Lernen sind motivierend und führen zu einer Verbesserung und Entwicklung des Lernens, weil sie auch zu einer Reflexion dessen führen, was überhaupt gemacht wird. Nehmen wir das Beispiel des Lesens vom Anfang: Kinder, die lesen lernen, lesen anderen Kindern und Erwachsenen vor, die darauf reagieren, ihnen zuhören, ihnen Tipps geben. Sie erleben sich als kompetent, erhalten Reaktionen, die mit ihren Fähigkeiten und ihren Aktivitäten zu tun haben.
Prüfungssituationen brechen mit etablierten Vorstellungen von Lernkultur. Unterstützen und begleiten die Lehrenden Lernende im Alltag, so treten sie bei Prüfungen in die Rolle einer kontrollierenden und bewertenden Instanz. Der dabei auftretende Rollenkonflikt ist erheblich.[2] Schülerinnen und Schüler erleben eine Person, die ihnen beim Lernen hilft, wohlwollend mit Schwächen umgeht und eine motivierende, verbindliche Bezugsperson ist, plötzlich von einer anderen Seite: Sie streicht Fehler an, bewertet Leistungen auch dann, wenn sie aus nachvollziehbaren Gründen nicht so gut ausfallen, und vergleicht Lernende untereinander, die sich möglicherweise gar nicht miteinander messen sollten, weil sie einen ganz anderen Lernstand aufweisen.
Noten führen zu Frustration. Das hat mehrere Gründe: Zunächst orientieren sie sich an teilweise willkürlichen, immer einseitigen Kriterien, die nicht alle Aspekte eines Lernprozesses abbilden. Stellen wir uns eine Schülerin vor, die sich intensiv auf eine Mathearbeit vorbereitet und dabei beträchtliche Fortschritte macht. Sie freut sich, dass sie Aufgaben lösen kann, die sie vorher nicht verstanden hat. Bei der Prüfung kommt aber nur eine dieser Aufgaben, bei der Lösung macht sie einen Flüchtigkeitsfehler. Viele andere Aufgaben entstammen Bereichen, in denen sie sich nicht verbessert hat; ihre Note ist entsprechend schlecht. Die Frustration lässt sich einfach erklären: Die Note kann die reale Verbesserung der Schülerin nicht abbilden.
Ein zweiter Grund für die Frustration liegt beim Vergleichscharakter von Noten: Wenn jemand Surfen lernt, dann tut das diese Person nicht, um sich mit anderen zu messen. Es geht selten darum, überdurchschnittlich gut zu sein, wenn Können entwickelt wird, sondern es geht um dieses Können. Noten führen aber sofort zu einem Vergleich mit anderen. Psychologisch passiert dann etwas gleichermaßen Einfaches wie Verheerendes: Menschen sind bei Vergleichen nur dann zufrieden, wenn sie etwas besser sind als die direkten Nachbarinnen und Nachbarn. Ihr eigener Leistungsstand ist dabei nicht mal mehr entscheidend. Aufs Surfen bezogen: Werden hier Noten gesetzt, interessieren sich Lernende nicht mehr für Surfgefühle oder -technik, sondern nur für die Note. Sie sind dann zufrieden, wenn ihre Note ihnen sagt, sie könnten etwas besser surfen als die Vergleichsgruppe. Aus statistischen Gründen können aber nur wenige besser sein als alle anderen – was dazu führt, dass viele frustriert sind.
Читать дальше