Titel: Eine mörderisch gute Schule - Nur wer Talent hat, überlebt
Autorin: Birgit Rüsch-Neuhaus
published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Copyright: © 2012 Birgit Rüsch-Neuhaus
ISBN 978-3-8442-3452-7
Birgit Rüsch-Neuhaus
Eine mörderisch gute Schule
Nur wer Talent hat, überlebt
Psycho-Thriller
Für A.
Ich traf ihn nur ein einziges Mal; sein Schicksal hat mich tief bewegt.
Für meine Tochter, mit der ich so bereichernde Gespräche über Synästhesie führen durfte.
Es ist laut, es ist heiß und es wird immer enger hier am Ende des Catwalks.
Alles drängt sich um uns, um ihm einmal im Leben nahe sein zu können. Wir sind eingekesselt, können kaum atmen. Tausend Leute um uns herum haben die Arme hochgerissen, sie schwenken gleißend weiße Lichter und summen die Melodie seines Welthits mit: Ein Raunen hat die ganze „Hamburg-Arena“ erfüllt; alle sind bei ihm, dem Mann, der sie alle verzaubert hat heute Abend - wie überall auf der Welt und jedes Mal, wenn er eine Bühne betritt, wenn er seiner Stimme und dem Spiel seiner Hände freien Lauf lässt.
Jetzt! Er setzt den Fuß auf den Catwalk, der ihn von der Unnahbarkeit der Bühne tief hinein zu uns in die Menge seiner Bewunderer führt. Ich weiß, ich habe den richtigen Platz ausgewählt: Hier werden wir ihn abfangen!
Er kommt direkt auf uns zu. Auf der runden Plattform bleibt er stehen, geht in die Hocke und reicht den ersten, denen, die am nächsten dran sind und mutig, die Hand: Er lächelt, er lacht. Kein Wunder, die Menschen lieben ihn!
Ein Mädchen mit rotem Haar ist die Erste, ein Junge im Elvis-Outfit der Zweite. Sie stehen genau vor uns.
„Du bist dran!“, schreie ich Cassie ins Ohr und drücke ihr das Foto in die Hand. „Zeig’s ihm - jetzt!“
Binnen Sekunden läuft vor meinem inneren Auge ein Film ab: Was ist bloß alles geschehen in den vergangenen Monaten, wie hat sich das Leben für uns alle verändert, wie hat sich das Wort „Leben“ in seiner Bedeutung für uns alle gewandelt!
Kapitel I
So weiß wie Schnee
Es war einer dieser wenigen verwunschenen Wintertage im Jahr 2020 gewesen. Damals, zwei Wochen vor Weihnachten, hatte es wohl keinem, wirklich keinem Jugendlichen Leid getan, dass er nicht unter der ewig strahlenden Sonne Kaliforniens lebte, sondern genau hier: in einem verschlafenen Kaff in Südholstein, mitten im Speckgürtel Hamburgs, da wo die Zeit seit dem Millennium beinahe stehen geblieben war!
Es hatte nämlich über Nacht geschneit, ganz leise und fein und weiß und sauber wie der Puderzucker, den eine liebe Omi am Sonntag für ihre Enkel über einen frischgebackenen, duftenden Puffer siebt!
(Meine Omi hat das übrigens früher auch getan - jeden Sonntag, vor ein paar Jahren, als sie noch so richtig fit war, als sie noch jede Woche genau wusste, wann Sonntag war...)
Genau damals hatte alles begonnen.
Ich merkte es gleich beim Aufwachen: Die Luft schmeckte anders als gestern - kühl und klar und supersauber. Und die Geräusche, die von der Straße herauf in mein Zimmer drangen, klangen viel gedämpfter als sonst. Mein Fenster stand auf Kipp. Die Zeitschaltuhr hatte wie immer in den letzten drei Tagen dafür gesorgt, dass sich Punkt sechs mein Fenster, wie von Geisterhand bewegt, lautlos einen Spalt breit öffnete. Und auch dafür, dass das runde „Morgensonnelicht“ wie gewünscht warm und unaufdringlich über meiner Zimmertür glomm. (Ich sage dir: Auf unseren neuen Computer für House Keeping, Mums neueste Errungenschaft und vorgezogenes Weihnachtsgeschenk für uns beide, war echt Verlass!)
Aber heute brauchte ich die Augen gar nicht aufzumachen, um meine künstliche Morgensonne zu sehen: Eben erklang nämlich aus den Boxen zu beiden Seiten der Tür leise mein Lieblingssong: „Paradise“ von „Lord Future“! Gleich die ersten Akkorde ließen vor meinem inneren Auge ein warmes, weiches Bananengelb herbeifließen. Herrlich! Ich kuschelte mich tiefer in meine Decke und lauschte auf die sanfte Flut aus gelben, grünen und himmelblauen Tönen... bis plötzlich ein grauvioletter Misston eine hässliche Schneise in meinen wundervollen Film schlug.
Natürlich! Von draußen her bahnte sich das Zischen der modernen Vakuumpumpe unserer Müllabfuhr durch den Fensterspalt. Wie jeden Donnerstag um diese Zeit schnaufte sie sich schwer durch die kleine Siedlung der Schusterstadt nördlich der Bahnlinie. Allerdings - ich konzentrierte mich auf das hässliche Geräusch - klang sogar ihr schmutziger Atem heute irgendwie feiner und weicher als sonst! Ich schlug die Augen auf; mein sonniges Paradies verflüchtigte sich. Ich reckte den Hals, um auf die Straße zu spähen. Dann ein Lachen der Verwunderung: überall Schnee! Das reale Paradies war weiß. Mein Herz hüpfte: Heute war ein ganz besonderer Tag!
Gleich darauf erfuhr meine Begeisterung einen Dämpfer: Bio-Test, erste Stunde!, schoss es mir durch den Kopf. Genetik. Hoffentlich fragte „der Findling“ nicht so penetrant genau! Ich griff nach meinem Handy: kurz das Network checken! „Ich brauch dich!“ Das war von Celine. Aber keine Nachricht von Lenny...
Der zweite Dämpfer kam, als ich im Bad meine leere Zahnpasta-Tube in dem kleinen silbernen Mülleimer versenken wollte: ein Schwangerschaftstest! Wie hypnotisiert glotzte ich auf das Anzeigefenster - und atmete gleich darauf auf: Ergebnis negativ! Ich erwischte mich beim Kopfschütteln: Was um Himmels Willen fiel meiner Mum bloß ein?
Der dritte Dämpfer kam, als ich eben mein Rad aus dem Carport holte. (Ja, Rad! Du hast richtig gehört: Ich fuhr immer noch ein stinknormales, uraltes Fahrrad. Und warum? Weil Mum mir noch immer kein E-Bike gekauft hatte. „Ist nicht drin“, hatte sie immer wieder gesagt, „bei dem wenigen Geld von deinem knickrigen Vater!“ Und mein Wochenend-Job in Pepes Tapas-Bar brachte es auch nicht!)
Jedenfalls rutschte mir da das antike Teil glatt auf dem Weg zur Straße unter dem Hintern weg: Holla! Fahrräder haben leider keine Spikes.
„Juli! Vorsicht! Brich dir nicht die Knochen, Kind!“
Das kam von der Haustür. Das konnte nur Mum sein!
„Alles perfekt!“, rief ich krächzend zurück, während ich mich aufrappelte. „Du weißt doch: Ich hab Knochen so hart wie Diamant!“
„Hast du auch dein Vollkornbrot?“
Mum war noch in ihrem babyblauen Bademantel, hatte wohl wieder Nachtschicht am Schreibtisch gehabt. Seit drei Monaten machte sie nebenberuflich diesen teuren Fernlehrgang; Ernährungsberaterin wollte sie werden. Aber noch war sie nur Drogeriefachverkäuferin. Seit dem Millennium hatte sie sich jedes Jahr einen neuen Arbeitsplatz erkämpfen müssen; denn eine Dromarktkette nach der anderen machte Pleite. Jetzt gab es in unserer Gegend nur noch zwei. Seitdem Mum studierte, trieb ihr Gesundheitsfimmel immer schlimmere Blüten: Im Haus hatte sie alles auf „Öko“ getrimmt; bei mir überwachte sie Zahnpflege und Ernährung, als ginge ich noch in den Kindergarten.
Jetzt stellte sie ihre Tasse mit dampfendem Kräutertee ab, fuchtelte wild mit den Armen herum und rief mir noch was hinterher! (Sie konnte so peinlich sein!) Ich verstand nur „langer Tag“ und „Denk an Omi!“ Und dann tauchte auch noch Sascha in der Haustür auf! Sascha war Mums neueste Eroberung - zehn Jahre jünger als sie und total in sie verknallt - und das schon seit drei Monaten. Sascha!
Sein Name hatte dasselbe Babyblau wie Mums Bademantel. Irgendwie schienen sie also zusammenzupassen. Sie hatte ihn im Fitness-Studio kennen gelernt. Er strotzte geradezu vor Testosteron und er schämte sich nicht, sie vor meinen Augen zu umarmen und abzuknutschen, wann immer es ihn gerade überfiel.
Читать дальше