Gerlinde ist sechs Jahre alt und lebt in Matschdorf, einem winzigen vorpommerschen Dorf an der Eilang, einem Oder-Zufluss. Die langen warmen Sommertage 1944 sind trotz des Kriegs von Spielen, von Streichen, Pfirsiche-Klauen und dem Vertrauen in eine einigermaßen heile Welt geprägt. Im Herbst darf Gerlinde in die Schule, doch die besucht sie nur zwei Monate.
Heiligabend 1944 flieht sie in der Nacht mit ihrer Mutter Elisabeth und ihren beiden Brüdern heimlich, ohne Wissen der anderen Dorfbewohner, über die vereiste Oder. Vier Monate lang, bis zur Kapitulation Nazi-Deutschlands, flüchten sie mit einem Treck vor der heranrückenden Roten Armee.
Als der Krieg zu Ende ist, hoffen sie auf Frieden, ein Wiedersehen mit den Lieben und einen Neuanfang. Doch der Versuch ihrer Rückkehr in den Oderbruch wird zu einer Reise in Hunger, Verlust und Gewalt.
»Schau nicht hin, schau nur geradeaus« erzählt aus der Perspektive des kleinen Mädchens, wie Kriegsfolgen zu traumatisierenden ›Ur-Erfahrungen‹ werden. Die ›Kriegskinder‹ von damals sind die Eltern der heutigen ›Kriegsenkel‹.
Die Autorin, Jahrgang 1960, ist eine von ihnen. Seit Jahrzehnten hat sie sich gefragt, wieso sie die ›deutsche Schuld‹ trotz der Nicht-Verstrickung der eigenen Familie so stark berührt und beschämt. Aus langen dokumentierten Gesprächen mit der eigenen Mutter hat sie deren Geschichte destilliert, die hautnah nachfühlen lässt, was die Epigenetik heute beweisen kann: dass schwere Traumata sich in unser Erbgut schreiben.
Ein deutsches Schicksal? Auch. Vor allem aber eines, das alle Menschen auf der Welt teilen, die frühe Kriegs-, Gewalt- und Fluchterfahrungen machen mussten. Wie individuelles Erleben der einen Generation die Realität der nächsten prägt, zeigt diese gleichermaßen persönliche wie gesellschaftlich hochaktuelle Erzählung.
Birgit Kahle ist seit den frühen 1990er Jahren als Journalistin, Autorin und Kommunikationsberaterin tätig. Zahlreiche Publikationen in Print und Hörfunk beschreiben das ›gute Leben‹ ebenso wie das politisch brisante. Von der reinen ›Sachebene‹ hat sie sich erst einmal entfernt: »Schau nicht hin, schau nur geradeaus« ist ihr zweites belletristisches Buch.
Birgit Kahle lebt und arbeitet in Bielefeld und Berlin.
https://www.birgitkahle.de
Birgit Kahle
Schau nicht hin,
schau nur geradeaus
Geschichte einer deutschen Flucht 1945
Dokumentarische Erzählung
Mit einem Vorwort von Ingrid Meyer-Legrand
Edition diá
Vorwort
Muscheljahre
Schau nicht hin
Schau nicht her
Schau nur geradeaus
Das neue Leben
Epilog
Nachwort der Autorin
Mein Dank
Leseempfehlungen
Impressum
Aribert, Gerlinde, Elisabeth, Ekkehard
»Verzweiflung ist eine Form von Gewissheit. Der Gewissheit nämlich, dass die Zukunft der Gegenwart sehr ähnlich oder aber unerfreulicher sein wird.«
Rebecca Solnit
Was wäre, wenn wir alle die Geschichte unserer Mütter noch einmal erzählten? Radikal aus ihrer Perspektive? So wie es in dem vorliegenden Buch von Birgit Kahle geschieht: Eine Tochter schreibt die Geschichte ihrer Mutter aus der Perspektive eines fünfjährigen Kindes, das die Mutter zur Zeit ihrer Flucht im Rahmen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs war. Sie schreibt auf, was ihre Mutter ihr heute von damals erzählt, und zeichnet jede Bewegung dieser kurzen Zeitspanne ihres Lebens nach, die dann doch ihr ganzes Leben prägt.
Es macht vor allem eines deutlich: Unsere Mütter hatten ein Leben vor uns Kindern. Das haben wir natürlich immer schon gewusst, aber erklären konnten wir uns bestimmte Verhaltensweisen unserer Mütter dennoch nicht. »Mama hat etwas ganz Schlimmes erlebt«, hieß es so manches Mal zur Entschuldigung ihres befremdlichen Verhaltens in der Familie. Dieses Kind, das wir in dem Buch erleben, dieses so früh verletzte Wesen in unserer Mutter haben wir, die wir mit traumatisierten Müttern aufgewachsen sind, immer schon wahrgenommen. Es war immer schon da, als beständige Sorge und als dringender Wunsch: Wie können wir sie trösten? In diesem Resonanzraum sind wir Kinder der Kriegskinder, wir Kriegsenkelinnen und Kriegsenkel, groß geworden.
Wozu ist es gut, dass wir uns die Geschichte und die Geschichten unserer Mütter ganz genau ansehen und sie uns noch einmal anhören, zu Ende anhören, wie einst Verena Kast gefordert hat: Hört euch einfach einmal die Geschichten von Anfang bis Ende an!
Und tatsächlich, wir hören hier die ganze Geschichte und tauchen tief ein in die vielen grauenvollen Szenen dieser verheerenden Flucht und sehen ihr dabei zu, wie sie dieses Grauen aushält, wie sie ihr Leben trotz alledem gestalten und mit aller Kraft weiterleben will. Und wir atmen auf in Momenten, wo sie wieder aufatmen kann. Deswegen lohnt es sich, unseren Müttern bis zum Ende zuzuhören. Sie haben es überstanden, und wir können sie fragen: Wie habt ihr das geschafft? Woher habt ihr die Kraft genommen, die Zuversicht, die Hoffnung? Sie waren doch noch Kinder!
»Ich fühle, was du fühlst«, scheint Birgit Kahle mit diesem Buch zu sagen und sucht Antworten jenseits von Bewertung und Abwertung. Wer diesen Weg beschreitet, hört auf zu beurteilen und beginnt zu verstehen, wie die Mutter die geworden ist, die sie ist. Und nun ist endlich auch der Blick frei für die Frage nach der eigenen Identität.
Denn unsere Identität schlummert nicht einfach in uns, sondern ist das Ergebnis von Resonanzen, von Schwingungen, die von Generation zu Generation übertragen werden – über geteilte Erfahrungen, heftige Auseinandersetzungen, Hoffnungen, Freuden, Ängste und Erwartungen. Und über die Kraft!
Wie bin ich geworden, wer ich bin, lässt sich aus dieser Perspektive auch als Liebeserklärung an die erste große Liebe unseres Lebens formulieren: Ohne sie, ohne meine Mutter, wäre ich nicht die, die ich heute bin.
Ingrid Meyer-Legrand, im Juni 2020
Muscheljahre
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