Ein weiteres besorgniserregendes Feld sind die Zahlen des Verdrängungskonsums durch die gesellschaftlich anerkannte Droge Nr. 1: des Alkohols. Laut einer DAK-Studie (2010) liegt das Einstiegsalter bei 11 Jahren, wobei die Jungen tendenziell höhere Werte zeigen als die Mädchen. Geben 10 Prozent der 12-jährigen Jungen an, wöchentlich zu trinken, sind es mit 15 Jahren schon 44 Prozent und ab 16 Jahren 70 Prozent. Dabei berichten 50 Prozent, sich an «monatlichen Rauschtrinken» zu beteiligen. Entgegen häufiger Vorurteile ist der Anteil in beiden Kategorien an Gymnasien höher als an Haupt- und Realschulen. «Ein Risikofaktor dafür ist offenbar der erlebte Schulstress», erklärt Projektmanagerin Silke Rupprecht von der Leuphana Universität Lüneburg. An Gymnasien geben 46 Prozent der regelmässigen Alkoholkonsumenten an, dass sie unter einem «hohen Leistungsdruck» stehen (DAK 2010).
Gefragt nach den Gründen für den Stress geben die Schülerinnen und Schüler neben dem äusseren Grund «Zeitdruck» (41 Prozent) hauptsächlich ihren «eigenen inneren Druck» (40 Prozent) an: «‹Auch unter Druck möchte ich alles gut machen› (41 Prozent)» (Juvenir, 2015). Dagegen fällt der Druck durch die Erwartungshaltung der Eltern relativ gering aus (16 Prozent). Das ist ein immer häufiger zu beobachtendes Phänomen. Der Hamburger Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Michael Schulte Markwort beschreibt in seinem Buch «Burnout-Kids», wie immer mehr Eltern «hochgradig besorgt und ratlos» einem Leistungsdruck gegenüberstehen, den sie selbst nicht explizit setzen (2015, S. 11).
Es ist unsere Gesellschaft, die einen immanenten Leistungsdruck vorgibt, so dass die Schülerinnen und Schüler den Druck bereits internalisiert haben und der «innere Antreiber» die Führung übernimmt. Die Beschleunigung der Gesellschaft – wie sie u. a. Hartmut von Rosa (2011) beschreibt – führt zu immer mehr Ängsten, den Anforderungen nicht standhalten zu können, aus dem sich immer schneller drehenden System «zu fliegen». Ebenfalls in der Juvenir-Studie (2015) geben 40 Prozent der Befragten an, Angst um ihre berufliche Zukunft zu haben. Die Auswirkungen spüren Lehrpersonen in ihrem täglichen Umfeld. So berichtet die Schulleiterin eines Leipziger Gymnasiums in einem Interview: «Ich erlebe jetzt oft Kinder, die weinen, wenn sie eine Zwei haben, traurig sind, denken, dass sie nichts können, und man denkt, wie kann man den Kindern irgendwie helfen, dass sie da nicht solchen Druck haben» (in Krämer 2019, S. 111). Und sie ergänzt mit derselben Schlussfolgerung, dass sie Kinder sieht, «die gar nicht wissen, wie man sich einfach mal hinsetzt und relaxt. Aber ich kenne das, ich kann das ja auch nicht! Aber dass das Kinder schon nicht wissen, fand ich total verrückt. Ich denke schon, dass dieses Verhalten mit der Schnelllebigkeit der Gesellschaft zu tun hat, dass die Eltern auch gestresster sind, und dies auf Ihre Kinder ganz leicht übertragen.»
Wie ein ironischer Kommentar dazu wirkt ein Zitat Jean Pauls: «Es hat keinen Sinn, die Kinder zu erziehen, sie machen einem doch alles nach.»
Aus diesen Aussagen ergibt sich eine Forderung an die Lehrerschaft, denn wie können Kinder und Jugendliche gesundheitsförderndes und selbstfürsorgliches Verhalten lernen, wenn nicht durch das Beobachten der Personen, die nach dem Elternhaus die größte Wirkung auf ihre Psyche haben: ihre Lehrpersonen. Das Erlernen dieser grundsätzlichen sozialen Kompetenzen erfolgt, wie es die Hirnforschung bestätigt hat, durch Beobachtung und Nachahmung und nicht durch einen theoretischen Diskurs (vgl. Bauer, 2010, S. 6−9). Ralph Waldo Emerson bringt es auf den Punkt: «What you are speaks so loudly that I can’t hear what you say you are» (2017). Daher ist es spannend, sich zu den benannten Aspekten das LehrerInnenverhalten anzuschauen, denn wie es schon Einstein sagte: «Es gibt keine andere vernünftige Erziehung, als Vorbild zu sein.»
Um nicht das breite Feld der Lehrerinnen- und Lehrergesundheit komplett aufzurollen, hier nur einige ausgewählte Zahlen. In der Schweizer Nationalfondstudie (Kunz et al., 2015) der Fachhochschule Nordwestschweiz gab jeder fünfte Pädagoge an, «ständig überfordert» zu sein, jeder dritte gab an, einmal im Monat an «depressiven Stimmungen zu leiden» und wird als Burnout-gefährdet eingestuft. Verschiedene Gründe werden in der Studie für die hohe Belastung der Lehrpersonen verantwortlich gemacht: eine hohe Arbeitsmenge, Konflikte mit Eltern, schwierige Schülerinnen und Schülern und der sogenannte «Präsentismus» (das Weiterarbeiten im Krankheitsfall).
Schon diese Studie macht deutlich, dass von Seiten der Lehrpersonen eher das Vorleben des in der Gesellschaft herrschenden Drucks stattfindet und eine Neuorientierung nur durch die Bewusstseins- und Verhaltensänderung der einzelnen Lehrpersonen möglich ist, dass dazu aber ebenso das System hinterfragt und umstrukturiert werden sollte, um die nötigen Freiräume zu ermöglichen. Sich diese Freiräume zu erobern, kann die Haltung der Achtsamkeit unterstützen.
Achtsamkeitsprogramme für Lehrpersonen und deren Auswirkung
Es lag nahe, hier das besterforschte säkulare Achtsamkeitsprogramm «Mindfulness-Based Stress Reduction» (MBSR) zu nutzen, das in den 1970er-Jahren von Dr. Jon Kabat-Zinn an der University of Massachusetts entwickelt wurde und seither in über 100 Studien u. a. Effekte wie Stressreduktion und erhöhtes Wohlbefinden zeigte (ausführliche Zusammenstellung von Wirkungen auf www.achtsamleben.at/forschung).
In einer jüngst erschienenen Studie aus dem Freiburger «Musse»-Projekt konnten durch die Implementierung von MBSR-Kursen für 49 Lehrerinnen und Lehrer zwar keine unmittelbaren Effekte auf ihre Gesundheit nachgewiesen (Gouda, 2017), aber subtile Veränderungen auf Prozessebene festgestellt werden, welche die Bewältigungsressourcen, Lebenszufriedenheit und die sozial-emotionalen Kompetenzen von Lehrkräften unterstützen. Zu ähnlichen Ergebnissen kam bereits eine Studie von Silke Rupprecht. Es entstand weniger Resignation bei Misserfolgen, wodurch Angst, Stressgefühle und Depression abnahmen. Durch die verstärkte Präsenz im Körper stieg die Entspannungs- und Erholungsfähigkeit an, wodurch Wohlbefinden, Ruhe und Ausgeglichenheit zunahmen (Rupprecht, 2015).
Ausgehend vom MBSR-Programm wurden zahlreiche inhaltlich und strukturell auf den Schulkontext abgestimmte Programme entwickelt und empirisch überprüft.
Betrachten wir nun genauer, welche Auswirkungen diese Forschungsergebnisse auf die Handlungsspielräume der Lehrpersonen haben.
Mithilfe der achtsamen Haltung wird die Entwicklung der kognitiven Flexibilität (Kashdan & Rottenberg, 2010) gefördert, ebenjener Fähigkeit, die im Unterricht die Basis eines situationsadäquaten Vermittelns darstellt. Sich spontan von einer festgelegten Struktur zu lösen, um auf die Bedürfnisse und Nachfragen der Schülerinnen und Schüler zu reagieren und zu einer flexiblen Neugestaltung des Lerninhalts zu kommen, wird auf diese Weise unterstützt. «Wenn ich mich auf eines verlassen kann», beschreibt ein Kollege, «dann darauf, dass immer alles anders läuft als geplant.» Je grösser die kognitive Flexibilität, desto leichter sind situationsadäquate Veränderungen in Struktur oder Vermittlungswegen möglich (in Krämer, 2019, S. 32).
Durch die Förderung der Selbstreflexion (Farb et al., 2007) können Achtsamkeitsprogramme Lehrkräften dabei helfen, die «Tendenz zu emotionaler Impulsivität (als Reaktion auf Schülerverhalten) zu überwinden, welche zu emotionaler Erschöpfung und Burnout führt» (Chang, 2013, Jennings & Greenberg, 2009) und so «die Zyklen negativer Impulsivität zu durchbrechen» (Safran & Segal, 1990 In: Jennings, 2017, S. 52−54). Das kurze Innehalten der durch Achtsamkeit entwickelten Impulsdistanz führt zu der Fähigkeit, selbstbestimmt zu agieren und sich «mit effektiven Problemlösungsstrategien zu beschäftigen» (ebd.). Wie stark sich die Fähigkeit der Emotionsregulation auf das tägliche Unterrichtsgeschehen auswirkt, wird durch die Relation zur Beziehungsfähigkeit klar: «Die Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung hängt zum Teil davon ab, wie die Lehrperson negative Emotionen ausdrücken bzw. steuern kann» (George & Solomon, 1996). Und welche Relevanz die Beziehung auf das Classroom-Management hat, wird in einer Metastudie von Marzano et al. (2003) deutlich: «Lehrpersonen, deren Beziehungen zu SuS eine hohe Qualität aufweisen, haben 31 % weniger auffälliges Verhalten in ihren Klassen.»
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