Ergänzender Faktor für die Beziehungsfähigkeit ist neben der Emotionsregulation auch die sich entwickelnde Präsenz, die der Gymnasiallehrer Max Althammer beschreibt: «In den zwei Jahren, in denen ich jetzt Achtsamkeit an der Schule praktiziere, konnte ich beobachten, wie sehr sich die Beziehungen (zu Kollegen, Eltern und Schülern) verbessern, und meine Erklärung dafür ist ziemlich einfach. Jeder Mensch will wahrgenommen werden und jeder Mensch will als der, der er ist, wertgeschätzt werden. Achtsamkeit ermöglicht es mir im Unterricht nicht nur, mich mit mir selbst zu verbinden, sondern auch jeden einzelnen Schüler in den Blick zu nehmen und zumindest einen kurzen Moment wirklich wahrzunehmen. Das spüren die Schüler. Und das führt dann dazu, dass sich ein höheres Mass an Vertrauen bildet. Auf diese Lehrer-Schüler-Beziehung des gegenseitigen Vertrauens und der Wertschätzung lässt sich dann auch ein guter, produktiver Unterricht gestalten» (Althammer, 2016).
Ebenjene Auswirkungen auf die Beziehungsfähigkeit sind entscheidende Faktoren für die Lehrerinnen- und Lehrergesundheit. Joachim Bauer benennt im Freiburger Modell die Beziehungsarbeit als einen der drei Bestandteile des «magischen Dreiecks» der Lehrerinnen- und Lehrergesundheit (neben der Identität und sozialen/kollegialen Unterstützung). «Da fortgesetzt gestörte Beziehungsabläufe den Menschen krank werden lassen, kommt in Berufen, in denen das Beziehungsgeschehen eine herausgehobene Rolle spielt, vorbeugenden Massnahmen gegen psychosomatische Erkrankungen eine besondere Rolle zu. Dies betrifft in besonderem Masse den Lehrerberuf» (Bauer et al., 2007, S. 4).
In diesem Sinne ist es ganz besonders erfreulich, die ersten veröffentlichten Ergebnisse aus dem NRW-Landesmodellprojekt GIK (Gesundheit − Integration − Konzentration) zu lesen, welches in 21 Solinger Grundschulen stattfand. SchulleiterInnen und LehrerInnen, welche Interesse an den adaptierten mehrwöchigen MBSR-Kursen zeigten, wurden in einem Umfang von 20 h weitergebildet, um sie damit in ihrer «gesundheitlichen und beziehungsrelevanten Selbstkompetenz» zu stärken. Im darauffolgenden nächsten Schritt wurden in einem Team von Lehrpersonen und AusbilderInnen achtsamkeitsbasierte Interventionen für die Kinder ausgewählt, selbst entwickelt und eingeübt und deren Umsetzung im Schulalltag begleitet (Altner et al., 2018). Als Ergebnisse konnten klare Verhaltensveränderungen beobachtet werden, die sich ausgehend von der Selbstwahrnehmung und -regulation insbesondere auf die Kommunikation im Kollegium und mit den Schülerinnen und Schülern ausgewirkt haben: Bedürfnisse und Grenzen werden klarer ausgedrückt. Es wurden gemeinsame Kommunikationsregeln vereinbart, z. B. «ein bewusster Verzicht auf gegenseitiges Abwerten und Klatsch, den Fokus auf das Mitteilen der eigenen Wahrnehmung, Gefühle und Wünsche zu legen, anstatt dem Jammern über Zustände und System-Blaming, wird ein gemeinsames Finden von kreativen Lösungen angestrebt» (Altner et al., 2018, S. 6).
In der Folge wurde eine ganze Liste an konkreten, kreativen Neuerungen in den einzelnen Kollegien beschlossen, um eine Kultur des entstressenden und gesundheitsfördernden Miteinanders zu entwickeln (nachlesbar auf www.achtsamkeit.com/gik).
Auf das gleichermassen von Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern geäusserte Bedürfnis nach mehr Ruhe wurden ganz konkrete Massnahmen eingeführt:
eine Reduktion der Schulklingel nur zu Unterrichtsbeginn und -ende sowie nach der Hofpause
alle Schulkonferenzen beginnen mit drei Minuten gemeinsamer Stille
ins Lehrerzimmer wurde eine Couch der Stille gestellt
die Lehrpersonen signalisieren einander und den Kindern z. B. durch rote Klötzchen, wenn sie einen Moment für sich brauchen
Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler bitten mit einem Gong im Klassenzimmer einander zur Ruhe
Diese Ergebnisse sind auch relevant, um die oft vorgebrachte Kritik an Achtsamkeitsprogrammen zu entschärfen, dass die akzeptierende Grundhaltung zu einer Duldung von ungerechten Zuständen führt. Diese würden zwar helfen, die eigene Balance wieder zu einem Grad herzustellen, der einen nicht erkranken lässt, aber dadurch das Verharren in unmenschlichen, nicht zumutbaren Verhältnissen ermöglichen. Die Ergebnisse des GIK-Projekts legen nahe, dass die Sensibilität für Missstände und Ungerechtigkeiten und die Fähigkeit, deren Auswirkungen «am eigenen Leibe» zu spüren, steigt, was nicht zum Rückzug, sondern zum bewussten Gestalten der eigenen Umwelt führt. Die Lehrerin und Entwicklerin des Polly-Ananda-Programms Nanine Schulz beobachtet, «dass die Menschen, die sich mit Achtsamkeit beschäftigen, eine andere Form von Wachheit bzw. Bewusstheit gegenüber ihrer Umwelt entwickeln. Achtsamkeit trägt dazu bei, dass wir klarere Entscheidungen treffen, wissen, was zu tun ist und wann wir Stopp sagen müssen. Wenn Achtsamkeit dazu beiträgt, dass wir kraftvoll und voller Energie bleiben können, haben wir die Möglichkeit, uns für unsere und die Rechte der Kinder an der Schule gezielt einzusetzen» (in Krämer, 2019, S. 31).
So ist es sinnvoll, über eine breite Implementierung in die LehrerInnenaus- und -weiterbildung nachzudenken. «Wenn jeder [und jede] angeleitet werden würde, sich selbst mehr zu verstehen, auf Gedanken-Gefühls- und Körperebene, dann würden Konflikte anders ausgetragen werden. Das sollte meiner Meinung nach in der Schule verankert sein und zu einer Art Grundausbildung gehören» (in Krämer, 2019, S. 158), schlägt die MBSR-Ausbilderin und Grundschulpädagogin Karin Krudup vor.
Diese Forderungen sind teilweise bereits umgesetzt, im anglo-amerikanischen Raum ist die Implementierung in Lehrpersonenaus- und -fortbildung mittlerweile weit verbreitet, doch auch im deutschsprachigem Raum entstehen Angebote. Noch sind es einzelne Projekte, die von einer flächendeckenden Verbreitung weit entfernt sind, aber das Interesse, welches Achtsamkeit in der Gesellschaft entgegengebracht wird, ist auch im Bildungssektor angekommen.
Dazu nun eine Auswahl der bestehenden Programme:
Achtsamkeit für Lehrerinnen und Lehrer |
Träger/Ort |
AutorInnen |
SMART: Management and Relaxation Techniques in Education |
University of BC/Vancouver |
Margaret Cullen u. a. |
CARE: Cultivating Awareness and Resilience in Education Stress |
Garrison Institute/New York |
Patricia Jennings u. a. |
MBWE: Mindfulness-Based Wellness Education |
University of Toronto |
Patricia Poulin u.a |
AiSchu: Achtsamkeit in der Schule, Persönlichkeit und Präsenz |
Schulamt Frankfurt/M. AKiJu/Berlin |
Vera Kaltwasser |
GAMMA MultiplikatorInnen-Schulung: Gesundheit, Achtsamkeit und Mitgefühl im menschenbezogenen Arbeiten |
Universität Duisburg-Essen |
Nils Altner |
Wache Schule: Mit Achtsamkeit zu Ruhe und Präsenz (im Aufbau) |
Universität Leipzig |
Susanne Krämer |
DAS-Training: Dialog und Achtsamkeit (vgl. S. 231 f. in diesem Buch) |
PH Luzern |
Detlev Vogel |
Tabelle 1: Achtsamkeitsprogramme für Lehrpersonen
Читать дальше