Andreas Pfister
Neue Schweizer Bildung
Upskilling für die Moderne 4.0
ISBN Print: 978-3-0355-2010-1
ISBN E-Book: 978-3-0355-2011-8
1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© 2022 hep Verlag AG, Bern
hep-verlag.ch
Abstract
Reform des Schweizer Bildungssystems
Die Digitalisierung, Automatisierung und Robotisierung erreichen ein neues Level. Die digitale Revolution betrifft nicht nur die Industrie, sondern alle Branchen. Mehr noch: Sie verändert alle Lebensbereiche unserer Moderne 4.0. Der Strukturwandel betrifft die Schweiz besonders stark. Schweizer Qualität benötigt gut gebildete Fachkräfte, doch die Nachfrage nach Hochqualifizierten wird wenig wahrgenommen. Eine Bildungsreform ist eine pragmatische Antwort auf den Fachkräftemangel. Lebenslanges Lernen und Weiterbildung können eine verbesserte Grundbildung nicht ersetzen. Es braucht einen systematischen Ausbau von Bildung auf allen Stufen.
Der Begriff «Industrie 4.0» bezeichnet den gegenwärtigen Stand der Digitalisierung in der industriellen Produktion. In Anlehnung daran kann man die Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche als «Moderne 4.0» bezeichnen. Teil dieser «Moderne 4.0» ist der fortlaufende Strukturwandel. Er ist Chance und Bedrohung zugleich. Die OECD rechnet damit, dass bis 2033 14 Prozent der Jobs durch die Digitalisierung verschwinden. Weitere 30 Prozent verändern sich tiefgreifend. Es entstehen neue Jobs in anspruchsvollen Bereichen, doch sie erfordern höhere Qualifikationen. Gegenwärtig findet eine doppelte Tertiarisierung statt: Zum einen erleben wir einen gesellschaftlichen Strukturwandel vom zweiten in den dritten Sektor. Gleichzeitig benötigt man für die neuen Jobs vermehrt tertiäre Bildung. Für diese neue Realitäten muss die Schweiz ihr Bildungssystem überdenken.
Im Zuge der Digitalisierung wechselt ein Grossteil der Arbeit auf ein neues Level. Der Anteil physischer und manueller Arbeit nimmt ab, kognitive Tätigkeiten nehmen zu. Arbeiten heisst vermehrt organisieren, kommunizieren, programmieren, steuern, evaluieren. Upskilling ist das Gebot der Stunde. Es gilt, sich höher zu qualifizieren. Verschärft wird die Situation durch den demografischen Wandel. Die Babyboomer werden pensioniert und die Nettozuwanderung geht derzeit zurück. Nach einem Höchststand im Jahr 2013 beträgt sie 2019 noch 30700. Dieser Rückgang der Zuwanderung verschärft den Fachkräftemangel – besonders bei den Hochqualifizierten. 60 Prozent der Zugewanderten haben heute einen Hochschulabschluss. In der Schweiz sind erst 43 Prozent tertiär gebildet. Es fehlen vor allem Hochqualifizierte, aber nicht nur. Neben den Ärzt*innen braucht es Pflegende, neben Ingenieur*innen sind Elektroinstallateur*innen gefragt.
Die Bildungsexpansion der Sechziger- und Siebzigerjahre setzte auf den akademischen Weg. Mitte der Neunzigerjahre fand eine Kehrtwende statt: Die Schweiz baute den dualen Weg mit Berufsmaturität und Fachhochschulen aus, der akademische Weg stagniert seither. Den Mangel an Hochqualifizierten deckt man mit Zuwanderung. Die Gymnasialquote tief zu halten, um die Berufslehre zu schützen, entspricht einer verbreiteten Grundhaltung in der Schweiz. Doch das Denkmuster der begrenzten Talente ist das falsche Bild. Angemessen ist das Bild von Potenzial. Kompetenzen entstehen, indem man sie bildet. Und zwar im Wortsinn: indem man sie fördert und entwickelt. Die Berufslehre wird dadurch nicht entwertet. Als Grundlage für tertiäre Bildung und lebenslanges Lernen behält sie ihren Wert.
Die Gesamtmaturitätsquote beträgt derzeit gut 40 Prozent. Das leichte Wachstum wird von der Berufs- und Fachmaturitätsquote getragen, sie erreichen heute 16 beziehungsweise 3 Prozent. Derweil stagniert die gymnasiale Maturitätsquote seit einem Vierteljahrhundert bei rund 20 Prozent. Dabei ist das Gymnasium keine Bedrohung für die Berufsmaturität. Kantone mit hoher Gymnasialquote haben in der Regel auch hohe Berufsmaturitätsquoten. Der akademische und der duale Weg sind gemeinsam stark.
Ein ähnliches Bild zeigt sich auf der Tertiärstufe: Die Hochschulquote steigt in den letzten zwanzig Jahren auf gut 30 Prozent. Auch hier wird das Wachstum von den Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen getragen, ihre Quoten steigen auf 17 Prozent. Die universitäre Quote hingegen stagniert seit Jahren bei 15 Prozent. Zur tertiären Bildung gehört auch die höhere Berufsbildung mit einer Quote von 17 Prozent. Das führt zu einer Abschlussquote auf Tertiärstufe von knapp 50 Prozent. Damit liegt die Schweiz nur im Durchschnitt der OECD-Länder. Für die Schweizer Wirtschaftsstruktur ist eine durchschnittliche Quote nicht ausreichend. Der Anteil tertiär Gebildeter steigt zu langsam.
Bildungsmythen im Faktencheck
Alte Mythen prägen die Bildungsdiskussion. Arbeitslose Akademiker*innen sind ein solcher Mythos. Die Statistik zeigt: Bei den UH-Master- und FH-Bachelor-Absolvent*innen beträgt die Erwerbslosigkeit rund 2 Prozent. Der Schweizer Schnitt liegt bei 4 Prozent. Auch bei Geisteswissenschaftler*innen liegt die Erwerbslosenquote fünf Jahre nach Studienabschluss bei 1,9 Prozent. Im Durchschnitt der UH-Master liegt sie bei 2,3 Prozent. Absolvent*innen im Bereich der exakten und Naturwissenschaften weisen eine Erwerbslosigkeit von 4,6 Prozent auf, was am hohen Spezialisierungsgrad liegt. Geisteswissenschaftler*innen sind auch nicht überqualifiziert. Die Ausbildungsniveauadäquanz ist in allen Fachbereichen hoch. Bei den Geistes- und Sozialwissenschaften beträgt sie 82 Prozent, bei den Wirtschaftswissenschaften 85 Prozent.
Obwohl oft bemüht, ist die Dropout-Quote an der Uni kein Argument gegen eine neue Bildungsoffensive. Der Studienerfolg hängt vor allem von sozio-ökonomischen Faktoren ab. Die kantonalen Maturitätsquoten spielen da eine untergeordnete Rolle. Im Vergleich zu den kantonalen Unterschieden zwischen den Maturitätsquoten sind die Unterschiede zwischen den Dropout-Quoten gering. Die historische Entwicklung zeigt: Der Studienerfolg hängt nicht von der Anzahl Studierenden ab. Ausserdem gilt es auch beim Thema Dropout, das Ganze im Auge zu behalten und die Verhältnismässigkeit zu wahren. Wichtiger als die Abbruchquote ist die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt. Die Diskussion um die Dropout-Quote ist vor allem Empörungsbewirtschaftung. Die Studienerfolgsquote in der Schweiz ist hoch.
Es braucht eine Maturapflicht für alle. Das heisst: Alle Jugendlichen in der Schweiz sollen entweder die Berufsmaturität, die Fachmaturität oder die gymnasiale Maturität erlangen. Der Anteil Jugendlicher, die eine gymnasiale Maturität erwerben, soll bis 2030 auf 30 Prozent steigen. Die Berufsmaturität soll flächendeckend eingeführt werden; ihr Anteil soll 50 Prozent betragen, jener der Fachmaturität 10 Prozent, der Anteil Abschlüsse für Menschen mit besonderen Bedürfnissen, etwa Berufsatteste, ebenfalls 10 Prozent. Für die Berufsmaturität bedeutet das: Sie wird zum neuen Standard und so zum festen Bestandteil der neuen Lehre.
Es braucht eine neue Governance, die sowohl den dualen als auch den akademischen Weg umfasst. Den Hauptharst der Bildungsreform bilden die Absolvent*innen der Berufsmaturität. Mit der Maturitätspflicht wird die Sekundarstufe II Teil der obligatorischen Bildung. Innerhalb der Berufsmaturität soll es eine Binnendifferenzierung in ein Niveau A und ein Niveau B geben. Niveau A fokussiert auf die Fachhochschulen, Niveau B auf die erweiterte Allgemeinbildung und das lebenslange Lernen. Ziel der Berufsmaturität Niveau B ist die Stärkung der schulischen Kompetenzen innerhalb der Berufslehre. Tertiäre Bildung kann, muss aber nicht daran anschliessen. BM-Lernende mit Niveau B erlangen ebenfalls die Berechtigung zum Fachhochschulstudium. Ein Vorbereitungskurs verbessert den Studienerfolg.
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