Die Argumentation ist im Grunde dieselbe wie jene gegen Kinderarbeit. Die wenigen Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien, die heute den Schritt zur Berufsmaturität machen, tun das oft aus eigenem Antrieb – gegen die Kultur ihres Milieus, gegen das Verhalten ihrer Peers, trotz der Skepsis oder Gleichgültigkeit ihrer Eltern, gegen die Ablehnung in vielen Betrieben, unter enormem Erfolgsdruck beziehungsweise der Gefahr, bei ungenügenden Leistungen wieder aufhören zu müssen, trotz strenger Eintrittshürden und Aufnahmeprüfungen und unter Inkaufnahme von einem Jahr Einkommensverlust bei der BM2. Das muss man sich mal vorstellen. Das ist ein riesiger, fast unmenschlicher Schritt. Kein Wunder, tun ihn nur wenige bildungsferne Jugendliche, sondern vor allem die Kinder von Akademiker*inneneltern, die es nicht ans Gymnasium schaffen und deren Eltern finden: Na gut, dann immerhin die Berufsmaturität. Dass diese Bildungsform auch den Namen Maturität trägt, kommt diesen Eltern gelegen, ihr Kind macht dann immerhin eine Maturität – auch wenn es keine gymnasiale ist. Kurz: Kinder aus bildungsfernen Milieus machen weniger oft die Berufsmaturität. Die Berufsmaturität zur Pflicht zu machen, bedeutet, diesen Jugendlichen eine echte Chance zu geben.
Fast jeder kommt irgendwo unter. Doch es ist klar, die Anforderungen steigen. Den Jugendlichen vorzugaukeln, sie müssten sich darum nicht kümmern, ist nicht ehrlich. Es gibt einen Strukturwandel – mit ihm müssen sich die Jugendlichen auseinandersetzen. Zu jeder Zeit mussten Jugendliche damit umgehen, dass es ihre Träume gibt – und daneben Jobs. Dass diese in einigen Fällen besser zusammenpassen als in anderen, hat die Dimension einer universellen Ungerechtigkeit, die kein Bildungssystem der Welt beheben wird. Die häufig gehörten Wendungen, es müssten nicht alle studieren,[46] es gebe auch handwerklich interessierte Jugendliche, sind Binsenwahrheiten. Sie treffen grundsätzlich immer zu, bei einer Maturitätsquote von 5, 20 oder 50 Prozent. Hier haben sich Diskurse verselbstständigt und den Draht zur Realität verloren. Ideologien stehen pragmatischen Lösungen im Weg. Sich als Beschützer*in der schulisch Schwachen zu inszenieren, hat bestimmt etwas Schmeichelhaftes. Echtes Empowerment sieht aber anders aus.
Mit einer Berufsmaturität werden mehr Lehrabgänger*innen ein Studium an einer Fachhochschule in Angriff nehmen. Und wenn sie sich gegen ein solches entscheiden, sind sie durch die erweiterte Grundbildung doch besser gerüstet für eine Arbeitswelt, die hohe Ansprüche stellt – auch an sie. Damit wirkt die Berufsmaturität prophylaktisch gegen Überforderung und Arbeitslosigkeit im fortgeschrittenen Alter. Es ist nicht nötig, dass alle Berufsgruppen das gleiche schulische Niveau erreichen. Schon heute gibt es grosse branchenspezifische Unterschiede. Die Unterteilung zwischen einem Niveau A und B, wie sie oben skizziert wurde, kann hier hilfreich sein. Mit dieser Unterscheidung wird es auch für schulisch Schwächere möglich, den Anschluss zu behalten und am lebenslangen Lernen teilzuhaben. Die Ansprüche steigen überall, auch in Berufen mit scheinbar tieferen Anforderungen. Es gilt über alle Branchen hinweg: Berufslehren sind ein erster Schritt hin zu weiterer Bildung. Eingängige Slogans seitens der Berufslehre bringen es auf den Punkt: «Lerne Goldschmiedin – werde Polizistin.»[47]
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.