Es gilt, den Graben zu überwinden, der zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften verläuft. Zuweilen ist sogar die Rede von zwei unterschiedlichen Kulturen.[38] Zu Recht ist aber darauf hingewiesen worden, dass der eigentliche Graben nicht zwischen den Fachbereichen verläuft, sondern entlang der Grenze zwischen Nützlichem und angeblich Unnützem.[39] Als Richtschnur gilt dabei die Verwertbarkeit der Lerninhalte – für den Job, fürs Studium, für den Alltag. Nicht verschiedene Fachbereiche stehen sich gegenüber, sondern die Grenze verläuft innerhalb der Fächer selbst. Ein Beispiel aus der Mathematik: Wozu die ganze höhere Mathematik, wenn doch einfaches Addieren ausreicht fürs Shopping? Lernenden seien solche Fragen erlaubt. Erwachsene sollten einen Schritt weiter sein. Ähnliche Fragen gibt es in jedem Fach, etwa in Deutsch: Wozu Gedichte lesen? Die Geschäftskorrespondenz ist poetisch genug.
Es geht hier nicht darum, das Nützlichkeitsdenken per se geisseln zu wollen, denn dieses hat durchaus seine Berechtigung. Es geht vielmehr darum, den weiter gefassten Wert des vermeintlich Unnützen in Erinnerung zu rufen.[40] Bildung ist mehr als ein Mittel zum Zweck. Daran soll gerade in einem Band, der häufig mit ökonomischen Notwendigkeiten argumentiert, erinnert werden. Es gibt noch andere Dimensionen des Lernens – jenseits von Arbeitsmarkt und Digitalisierung. Jede Fachkraft ist zuerst ein Mensch. Und erst als solcher gut im Job. Darin kann man eine utilitaristische Pointe sehen. Erst der menschliche Faktor, könnte man in ökonomischem Vokabular argumentieren, macht den Unterschied. Wenn schon mit dem Nutzen von Bildung argumentiert werden soll, dann richtig. Man sollte die sogenannte Wirtschaft – oder was man darunter versteht – nicht unterschätzen. Wirtschaftsbossen ein plumpes utilitaristisches Bildungskonzept zu unterstellen, ist klischiert. Das Bildungsverständnis der Wirtschaft reicht weit über das Utilitaristische hinaus. Kritische Stimmen werden einwenden, selbst Kreativität oder Innovation blieben, zu Kompetenzen verzerrt, bloss ein Mittel zum Zweck. Für Arbeitgeberinnen bleibe der gebildete Mensch letztlich Humankapital und seine Bildung bloss Rohstoff.
Es geht hier nicht darum, dieses Spannungsfeld aufzulösen. Es geht darum, die Dialektik aufzuzeigen, die darin liegt. Bildung ist beides: Sie ist ein zweckfreier Reichtum und gleichzeitig kann sie nutzbar gemacht werden; ökonomisch, gesellschaftlich, kulturell. Man muss Bildung nicht in Opposition zum Arbeitsmarkt stellen, ganz im Gegenteil: Die Arbeitswelt 4.0 will vom Menschen, was Maschinen nicht können. Das genuin Menschliche ist gefragt. Was es braucht, sind Menschen als kulturelle Wesen in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Innovationen brauchen Fantasie und Vorstellungskraft, Emotionalität, Spielfreude, einen geistigen Horizont. Zugegeben, dieser Gegensatz von Mensch und Maschine konstruiert ein etwas einseitig romantisches Menschenbild. Doch im Gegensatz zur Entfremdung, die den Menschen im 19. Jahrhundert zur Maschine machte, bietet die Arbeit 4.0 neue Chancen, sich in der Arbeit als Mensch zu erfahren. Die heutige Wirtschaft braucht gebildete, kritische Menschen, die mehr sind als Arbeitskräfte. Nicht nur die Wirtschaft braucht sie, erst recht die Gesellschaft, Politik und Kultur.
Es gehört zur Jugendkultur, das Lernen auf seinen Nutzen hin kritisch zu überprüfen. Eine Bildungskultur kann man nicht einfach befehlen. Oder herbeireden. Doch man kann sie pflegen. Das ist die Aufgabe der Erwachsenen, der Schule, der Gesellschaft. Fächer haben unterschiedliche Images. Je näher sie an der Berufsbildung sind, desto höher stehen sie bei Jugendlichen im Kurs. Einen schwereren Stand hat mitunter der allgemeinbildende Unterricht ABU. Die Berufsmaturität baut den schulischen Anteil aus, damit macht sie sich nicht bei allen beliebt. Doch immerhin ist es nicht die – allenfalls verhasste – Schule, sondern die sehr viel coolere Berufsschule. Zudem setzt sie sowohl auf Berufsbildung als auch auf grundlegende Bildung. Die BM ist nicht einfach mehr ABU, sie geht darüber hinaus. ABU in der Berufslehre hat eine gewisse Funktionalität: Gesundheit, rechtliche Grundlagen, Ethik. Die Berufsmaturität hingegen leistet mehr als Lebenskunde. Sie trägt ihren Namen zu Recht. Sie vertritt in der Lehre ein Bildungsideal, das nicht allein den Gymnasiast*innen vorbehalten bleiben darf. Bildung ist ein Menschenrecht – auch für Berufslernende.[41] Auch sie haben das Recht, Bücher zu lesen, das Recht auf Mathematik, auf Nachdenken und Entdecken. Kunst und Kultur sind kein Privileg für wenige. Sie sind, richtig angegangen und auf entsprechendem Niveau, auch keine Überforderung. Gerne werden, etwa um das Desinteresse von Berufslernenden an Philosophie zu belegen, einschlägige Erfahrungen von Berufsschullehrpersonen zitiert. Solche Anekdoten sind problematisch: Sie postulieren ein Desinteresse bei den Jugendlichen, das im Sinne einer «self-fulfilling prophecy» bestätigt wird. Wenn schon mit der Erfahrung von Lehrpersonen argumentiert werden soll: Es gibt zahlreiche Beispiele von Berufsschullehrer*innen,[42] die gute Erfahrungen machen mit anspruchsvollen Stoffen, etwa im Literaturunterricht, und die sich für das Recht ihrer Schüler*innen auf kulturelle Bildung einsetzen.
Die Maturitätspflicht erreicht sozial Benachteiligte.
Bisher hat die Berufsmaturität die besonders starken Berufslernenden ins Auge gefasst. Neben der Berufsmaturität – so die verbreitete Meinung – sollten auch Lernende mit einer einfachen Lehre ihren Platz finden. Die Auffächerung des Systems sollte dabei den unterschiedlichen schulischen Voraussetzungen gerecht werden. Es gibt ganze Berufsfelder, in denen sich die Berufsmaturität bisher kaum etabliert hat. Man argumentiert gern mit Tätigkeitsfeldern für Menschen, die ihre Stärken nicht im Schulischen, sondern im Praktischen haben. Auch für diese Jugendlichen, so die Argumentation, müsse das Schweizer Bildungssystem etwas im Angebot führen. Man spricht dann gerne von Individualisierung und davon, dass nicht alle Jugendlichen über einen Kamm geschoren werden sollen. Unter individueller Förderung versteht man zum Beispiel, dass schulmüde oder handwerklich interessierte Jugendliche eine Art Menschenrecht auf weniger schulische Bildung hätten, weil diese nicht zu ihrer Persönlichkeit passe. Der Schule wirft man im Gegenzug vor, die individuellen Neigungen nicht genügend zu respektieren. Das gipfelt mitunter im Appell, die Kinder, verstanden als Wild, vor der Schule, verstanden als Treibjagd, zu schützen.[43]
Weshalb nun dieser Vorschlag einer flächendeckenden Einführung? Warum sollen alle eine Berufsmaturität machen, auch die schulisch Schwachen? Zunächst gilt es anzuerkennen: Es ist wichtig, dass die Jugendlichen gewichtige und etablierte Stimmen haben, die sich für sie und ihr Wohlergehen einsetzen. Die Jugend muss ein Schonraum bleiben – gerade in einer Leistungsgesellschaft, die zunehmend Druck ausübt. Trotzdem gilt es wiederum, die Dialektik von Bildung und Gesellschaft im Auge zu behalten. Schule ist nicht nur eine Treibjagd, sie ist auch eine Befreiung und Ermächtigung der Jugendlichen. Die Schulpflicht ist beides: Zwang und Befreiung. In ihrer Entstehungszeit hat sich die Schule vehement gegen Kinderarbeit eingesetzt. Noch heute wehrt sie sich gegen Versuche von Firmen, immer früher geeignete Jugendliche für sich herauszupflücken.[44]
Die Individualisierung steht nicht erst seit den Bildungsreformen der Sechzigerjahre hoch im Kurs. Die Entfaltung der individuellen Persönlichkeit gehört seit der Aufklärung ins Zentrum jeder Bildung: Dass Lernende aus Gründen der Praktikabilität und aus preussischer Militärtradition zu Klassen zusammengefasst werden, hat man immer wieder als Makel empfunden, als Widerspruch zum Ideal der Individualisierung.[45] Allenfalls hat man den Klassenunterricht mit Funktionen wie der Förderung der Sozialkompetenz oder Integration legitimiert. Heute gibt die Digitalisierung der Idee der Individualisierung neuen Schub. Personalisierte Lernumgebungen machen es möglich, im jeweils eigenen Tempo zu lernen und Aufgaben verschiedener Schwierigkeitsstufen zu lösen – kurz: weniger im Klassenverband, dafür individueller zu arbeiten. Das sind interessante, aber nicht nur gute Entwicklungen. Teilweise unterlaufen sie die Idee der Schule selbst. Schulische Leistung hängt unter anderem von der sozialen Herkunft ab, das ist bekannt. Von der Schule jedoch erwartet man, dass sie niemanden diskriminiert – schon gar nicht aufgrund der sozialen Herkunft. Wie geht das zusammen? Traditionelle Pauker lösen das so: Sie scheren sich nicht um die jeweiligen Interessen und Desinteressen der Kinder. Das ist nicht einfach Ignoranz, das hat System: Interessen ergeben sich zumindest teilweise aus der Kultur des jeweiligen Milieus. Das Narrativ von individuellen Interessen und Begabungen bringt durch die Hintertür die alten Klassenunterschiede in das Schulzimmer zurück. Wenn Jugendliche in ihrem Vorurteil bestärkt werden, dass Schule für sie nichts sei, weil sie sowieso bald eine Lehre mit wenig intellektuellen Ansprüchen machen würden, dann stellt man diese Jugendlichen aufs Abstellgleis. Und das im Namen von Individualisierung. Die Aufgabe der Schule besteht darin, alle mitzunehmen, auch jene, die nicht wollen. Und zwar im Interesse der Jugendlichen. Deshalb braucht es die Maturitätspflicht, damit auch die schulisch Schwachen abgeholt werden.
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