Thomas Philipp - Bildungsethik (E-Book)

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Wie soll ein junger Mensch sein? Verantwortungsvoll, einfühlsam, neugierig, kreativ, begeisterungsfähig und politisch gebildet? Nein. Heute zählt nur, was man messen kann. Fit für den Arbeitsmarkt reicht. Diese Entscheidung bedeutet, sich der Knechtschaft des dumpfen Funktionierens zu überlassen. Nur Selbstreflexion bietet einen Ausweg. Ein politischer Entwurf mit philosophischen Mitteln.

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Thomas Philipp Bildungsethik Das werdende Ich jenseits des Funktionierens - фото 1

Thomas Philipp

Bildungsethik

Das werdende Ich jenseits des Funktionierens

ISBN Print: 978-3-0355-1568-8

ISBN E-Book: 978-3-0355-1569-5

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

www.bildungsethik.ch

www.bildungsethik.de

Für Alina und Elisabeth

Inhalt

Vorwort von Klaus Mertes

1Wie soll ein Mensch sein?

1.1Im Ideal sich finden

1.2Bildung für den Markt

1.3Falsche Frage, falsche Antwort

1.4Vergeblicher Widerspruch

1.5Schweigen der universitären Ethik

1.6Das Ziel dieses Buches

2Die Gegenwart im Spiegel der Bildungsbegriffe

2.1Ton und Ackerboden: Antike Suche nach einer Form für den Menschen

2.2Sich entbilden, sich einbilden, überbildet werden: Meister Eckhart

2.3Das starke Ich bildet sich: Aufklärung

2.4Bilden als Verinnerlichen: Einfühlende Psychotherapie

2.5Im Darm: Hannah Arendt (1906–1975)

3Ungebildete Bildungspolitik

3.1Herrschaft des Funktionierens: die OECD

3.2Abrichten zum Funktionieren: Bologna

3.3Ohnmächtig? Wir? Deutsche Bildungspolitik

3.4Dinosaurier und Postmoderne: Schweizer Bildungspolitik

3.5Ausblick

4Ausbeutung der Lebenswelt durch die Systeme: Jürgen Habermas (*1929)

4.1System und Lebenswelt

4.2Ausbeutung des sich bildenden Ich

4.3Reflexion

5Gebildete Bildungspolitik

5.1Politisches Gespräch

5.2Zusammenschauendes Menschenbild

5.3Bildung

5.4Was ist zu tun?

6Literatur

6.1Quellen

6.2Rechtsgrundlagen, behördliche Stellungnahmen

6.3Weiterführende Literatur

6.4Abbildungsverzeichnis

Vorwort

Von Klaus Mertes

Es ist der OECD in den letzten beiden Jahrzehnten gelungen, zwei konkurrierende Diskurse miteinander zu verbinden: den Neo-Liberalismus und den sozialpolitischen linken Diskurs. Dieser bemerkenswerte Schulterschluss sorgte spätestens nach dem «PISA-Schock» im Jahre 2000 für einen bildungspolitischen Konsens von der bürgerlichen Mitte bis hin zur Linken. Unter Stichworten wie «Standardisierung», «Kompetenzorientierung» oder einfach «Finnland» wurden weitgehende Reformprozesse in Gang gesetzt, von der Kita über PISA bis zur Hochschule.

Ich habe die bildungspolitischen Entwicklungen seit dem «PISA-Schock» aus der Perspektive der Schule erlebt und mich dabei immer wieder gefragt, was denn der zusammenhängende Gedanke hinter dem chaotischen Reform-Zirkus sein könnte, den das Bildungssystem – manchmal viel zu geduldig, eingeschüchtert und ergeben – hat über sich ergehen lassen müssen. Am Ende meiner Überlegungen bleiben zwei Begriffe stehen, die ihrerseits zusammenhängen: Vergleichbarkeit und Gleichheit.

Das anerkannte Ziel der PISA-Studie war, die nationalen Bildungssysteme international vergleichbar zu machen, um eine empirische Basis für Veränderungen des Bildungssystems im Zeitalter der Globalisierung zu gewinnen. Internationale Vergleichbarkeit und Neo-Liberalismus hängen zusammen: Letzterer behauptet das Primat der Marktmechanismen im Zeitalter der Globalisierung; der globale Markt hat keinen Welt-Staat über sich, der ihm im Sinne einer globalen sozialen Marktwirtschaft Zügel anlegen könnte; also regiert das Geld – weil es das einzige Medium ist, das internationale, globale Vergleichbarkeit herstellen kann.

Geld erhebt sich über Geschichte, Kultur und regionale Eigenheiten aller Art, auch über gewachsene Bildungstraditionen, weil es von allem Partikularen abstrahieren kann. «Indem das Geld immer mehr zum absolut zureichenden Ausdruck und Äquivalent aller Werte wird, erhebt es sich zu abstrakter Höhe über die ganze weite Mannigfaltigkeit der Objekte, es wird zu dem Zentrum, in dem die entgegengesetztesten, fremdesten, fernsten Dinge ihr Gemeinsames finden und sich berühren; damit gewährt tatsächlich auch das Geld jene Erhebung über das Einzelne, jenes Zutrauen in seine Allmacht wie in die eines höchsten Prinzips, uns dieses Einzelne und Niedrige in jedem einzelnen Augenblick gewähren, sich gleichsam wieder in dieses umsetzen zu können» (Georg Simmel, Philosophie des Geldes).

Die Option der OECD für die Herstellung internationale Vergleichbarkeit der Bildungssysteme bedurfte dieses geeigneten Mediums. Die Folge: Ökonomische Kriterien bestimmen den «Wert» von Bildung. Welches andere Medium als letztlich das Geld sollte auch diesen Dienst der Werte-Messung leisten können? «Würde» im Sinne des autonomen, denk- und urteilsfähigen Subjekts hat in diesem Konzept keinen Platz, beziehungsweise wird in «Werte» umgerechnet: «Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anders als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. Das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloss einen relativen Wert, sondern einen inneren Wert, d. i. Würde … Personen sind nicht bloss subjektive Zwecke, deren Existenz als Wirkung unserer Handlung, für uns einen Wert hat; sondern objektive Zwecke, d. i. Dinge, deren Dasein an sich selbst Zweck ist, und zwar einen solchen, an dessen Statt kein anderer Zweck gesetzt werden kann, dem sie bloss als Mittel zu Diensten stehen sollten» (Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten).

Bildung, die vom kantischen Begriff der Würde her gedacht wird, lässt die OECD mit ihrem Anspruch an Grenzen stossen. Die Protagonisten, die hinter den vier Buchstaben OECD stecken, müssten dann anfangen, Gesicht zu zeigen und zuzuhören. Doch das kommt nicht zustande. Die bildungspolitischen Debatten der letzten Jahre sind von einer merkwürdigen, aber auch bezeichnenden Sprachlosigkeit zwischen Basis und Entscheidungszentren geprägt – das heisst, einfacher ausgedrückt: Sie finden nicht statt. Insbesondere die Inhalte von Bildung kommen nicht zur Sprache, und schon gar nicht kontrovers. In dem Masse aber, in dem die kritischen Stimmen an der Basis an einer Mauer des Schweigens abprallen, sucht sich die Basis – die sich in Statistiken und immer neuen Strukturen wiederfindenden Reformobjekte namens Schülerinnen und Schüler, Studierende, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer – andere politische Interessensvertreter, fatalerweise in den letzten Jahren immer mehr bei autoritären Parteien und Bewegungen, die in das nationalistisch-partikulare Gegenteil des OECD-Universalismus zurückfallen.

Ich sagte eingangs: Der OECD ist es gelungen, ihren neoliberalen Ansatz im Schulterschluss mit dem linken Gleichheits-Diskurs voranzubringen. Neben dem Vergleichbarkeits-Topos und seinen Schrecken erregenden Resultaten («Deutschland hinkt im internationalen Vergleich hinterher», «China liegt bei dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Kompetenzen auf Platz 1» und so weiter) stellte PISA schon 2000 fest, dass die soziale Herkunft einen besonders starken Einfluss auf den schulischen Erfolg hat. In Kombination mit der Kritik am dreigliedrigen Schulsystem in Deutschland folgte aus diesem Befund, dass die Zeit des gemeinsamen Lernens erheblich verlängert werden müsse, mit den entsprechenden Schulstrukturreformen und -debatten, die seither den Bildungsdiskurs bestimmen. Das Credo lautet: Gemeinsame Lernzeiten verlängern statt frühzeitig aussortieren, um den Einfluss der Herkunft auf den Bildungserfolg zu brechen.

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