Philipp Hager
Im Bauch des
stählernen Wals
Roman
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Ein paar Bäume rasten am Fenster vorbei; dann war der Blick auf die Landschaft wieder frei. Endloses Ackerland. Bis zum Horizont erstreckte sich ein ockerfarbenes Nichts. Es machte den Eindruck, als hätte auf diesem Landstrich im Mittelalter eine unsägliche Metzelei getobt und als hätte die Erde die Kadaver niemals richtig verdaut. Wie ein grenzenloser, mit Weizen bewachsener Friedhof. Irgendwie war es schön anzusehen.
Ich versuchte, ein paar Eindrücke in meinem Notizbuch festzuhalten, aber der Zug rumpelte stark, und es kamen nicht mehr als schwarze Spinnennetze dabei heraus. In zwei Stunden würde ich nichts mehr davon entziffern können. Ich murmelte die Wörter vor mich hin, ließ sie wie Streichhölzer aufflammen, in der Hoffnung, sie mögen sich in meine Hirnrinde einbrennen. Aber kaum eine Minute später konnte ich mich an keine Silbe mehr erinnern; ich schnaubte, packte das Notizbuch in den Rucksack und lehnte mich zurück in den Polstersitz.
Es war Nachmittag, ein schöner Julinachmittag, und ich saß allein auf einem Viererplatz. Die Sonne brannte herein; Staubkörner schwebten im Licht. Weiter vorne im Wagen saßen ein paar Menschen. Sie schwatzten, und ihre Sätze zerbröckelten im Stampfen des Zuges, kleine Bruchstücke staubten über meine Ohren … Personalmangel … Akten … Ich achtete nicht darauf. Mir war fröhlich und heiter zumute. Ich fühlte mich meistens wohl. Zumindest, wenn ich alleine war.
Ich schaute eine Weile aus dem Fenster. Bis irgendwann die Abteiltür sich aufschob und ein glänzender Servicewagen hereinrollte. Der Mann dahinter war kaum älter als ich. Er hielt vorn, bei den Schwätzern. Dann kam er zu mir.
»Kann ich Ihnen etwas anbieten? Eine Erfrischung vielleicht?«
»Gibt’s auch was zu essen?«, fragte ich.
»Wir haben Sandwiches … mit Thunfisch, Schinken und Ei, Käse …«
»Drei Thunfischsandwiches bitte«, und während er eine Lade aufzog und darin kramte, »Obst gibt es wohl nicht? Nein … dann noch einen schwarzen Tee.«
Er gab mir die Sandwiches. Dann ließ er den Tee herabsprudeln und reichte mir den dampfenden Becher. Er blickte kurz an die Decke; zwischen seinen Schläfen floss der Strom.
»Das wären dann … neun Euro zwanzig.«
»Hier sind zehn. Stimmt schon«, sagte ich.
Das war meine letzte Kohle, nun war ich blank. Aber darüber machte ich mir keine Sorgen. Wenn alles glatt lief, würde ich noch heute Abend ein paar Hunderter in der Tasche haben.
Der Mann lächelte und nickte. Dann rollte er sein Wägelchen an mir vorbei. Unter dem hydraulischen Ächzen der Abteiltür verschwand er in den nächsten Wagen.
Ich sah wieder aus dem Fenster. Die Landschaft blühte nun zusehends auf. Ein bewaldeter Hang zog vorbei. Unzählige Rotbuchen streckten ihre Wipfel nach der Sonne, die am Himmel stand wie eine platzende Orange. Zwischen den Baumstämmen wand sich eine Straße hervor, darauf ein Lastwagen, der langsam hinter den Zug zurückfiel.
Ich packte ein Thunfischsandwich aus und versenkte meine Zähne. Während ich kaute und weiter aus dem Fenster sah, dachte ich über dieses und jenes nach, ließ meine Gedanken kullern wie ein Würfelspiel. Ich dachte an Camus’ Pest , das ich unlängst gelesen hatte, und wie wirklichkeitsfremd seine Figuren waren, aber den Schwarzen Tod hatte er gut hinbekommen. Ich verweilte ein bisschen bei der Pest, bei Wachsmänteln und Leichengruben und Pesthaken, und mir kam ein Tartarenführer in den Sinn, der im vierzehnten Jahrhundert Pestleichen über die Mauern einer belagerten Stadt katapultiert hatte. Ich versuchte mich an seinen Namen zu erinnern, brachte ihn aber nicht zusammen.
Auch das zweite Thunfischsandwich, das ich aus dem Plastik gewickelt hatte, schmeckte köstlich, umso köstlicher, weil mein Körper nicht mit schwarzen Beulen übersät war, und als sich die Pest in meiner Vorstellung aufgezehrt hatte, ließ ich die Flügel ausgebreitet und glitt mühelos weiter zur Spanischen Grippe. Ich sah ein ausgestorbenes Madrid vor mir, verrammelte Fensterläden und leere Straßenbahnen, die auf Kreuzungen verrosteten – plötzlich blitzte der sterbende Schiele wie ein glühender Draht durch meinen Kopf, und mein Herz setzte aus, aber schon drängte die Apokalypse nach, und Schiele wurde überschwemmt von Millionen anderen Toten, von entvölkerten Landstrichen und verseuchten Schützengräben und Scheiterhaufen, die tagelang brannten.
Aber auch die Grippe ging vorbei, und ich blieb bei Spanien hängen. Ich stellte mir eine Landkarte vor, versuchte Barcelona und Katalonien einzuzeichnen, und während ich mich über das dritte Thunfischsandwich hermachte, fielen mir unversehens ein paar Zeilen von Gogol ein, die ich noch am Morgen gelesen hatte: Ich entdeckte, dass China und Spanien völlig ein und dasselbe Land sind und dass man sie bisher nur aus Unbildung für zwei verschiedene Staaten gehalten hat. Ich rate jedem, einmal aufs Papier »Spanien« zu schreiben – Sie werden sehen, es kommt »China« dabei heraus .
Mit vollen Backen kicherte ich vor mich hin.
Nach dem letzten Bissen leckte ich mir alle Finger und schnalzte genüsslich mit der Zunge. Ich trank einen Schluck Tee. Mit der Wärme breitete sich eine wohlige Zufriedenheit in mir aus. Ich sperrte den Mund auf und gähnte. Dann lehnte ich meinen Kopf gegen die zitternde Scheibe und schloss die Augen.
Als ich erwachte, stand der Zug still. Die Abteiltüren waren offen, unzählige Menschen strömten herein. Sie lärmten und hoben ihre Taschen auf die Gepäckablage und nahmen mit ihren Körpern und Stimmen alles in Besitz. Draußen, vor dem Fenster zu meiner Linken, hing ein leuchtendes Schild: Würzburg .
Ich kniff geblendet die Augen zusammen und richtete mich in meinem Sitz auf. Aber noch bevor ich richtig zu mir kam, ließen sich zwei Rekruten in Ausgehuniform schwungvoll neben mir nieder. Ihre grünen Taschen fielen zu Boden. Flaschen schepperten darin. Der eine war groß, mit breiten Schultern und kantigem Gesicht, wie einem Gemälde von Albin Egger-Lienz entstiegen. Der andere war kleiner und rothaarig. Ihre Hosenbeine waren akkurat aufgestrickt, die Stiefel glänzten, und sie hatten kühne, entschlossene Mienen.
»SALUTIEREN, SOLDAT!«, rief der Große plötzlich.
Der andere riss die Hand zur Schläfe. Dann lachten sie. Na toll! Ich war an zwei Wahnsinnige geraten. Der Große zog den Reißverschluss seiner Tasche auf und fischte zwei Flaschen Bier heraus.
»Da, Michael. Auf deine Beförderung.«
»Danke. Zum Stabsgefreiten fehlt zwar noch ein Stück, aber zum Anstoßen reicht es.«
»Genau. Heute machen wir einen drauf, was?«
»Aber logo. Heut lassen wir’s krachen.«
»Die Weiber … ich sag dir … die Weiber stehen auf Uniformen.«
»Und soll ich dir was sagen? ICH AUCH!«
»HAHAHAHAHAHA!«, brüllte der Große aus vollem Hals.
»HAHAHAHAHA!«
»Prost, Michael.«
»Prost, René. Sollen wir?«
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