Georg Grund-Groiss / Philipp Hacker-Walton
DAS
HALBE
GRUND
EIN
KOMMEN
Der erste Schritt zu einer gerechteren Arbeitsgesellschaft
Im vorliegenden Buch wird aus Gründen der Lesbarkeit nicht gegendert. Frauen und Männer werden gleichberechtigt angesprochen.
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1. Auflage 2021
© 2021 by Braumüller GmbH
Servitengasse 5, A-1090 Wien
www.braumueller.at
Lektorat: Lucia Marjanovic
ISBN 978-3-99100-319-9
eISBN 978-3-99100-320-5
Für meine Mutter Irmtraud und meine Schwiegermutter Inge
Georg Grund-Groiss
Für Benjamin, Oscar und Emily
Philipp Hacker-Walton
Einleitung
Abschnitt 1
Menschenwürdige Arbeitslosigkeit
Systemkrise – jetzt aber wirklich
Erfahrungsbericht 1
„Wenn ich das zehn Jahre lang mache, dann gehe ich ein.“
Mangelberufe trotz Heimwerkerstolz
Erfahrungsbericht 2
„Auch das ist eine Art von Druck: Etwas aus meinem Leben machen zu müssen.“
Eine gute Zukunft für die Babyboomer
Erfahrungsbericht 3
„Was ist schon endgültig? Das, was man mit 14 lernt, sicher nicht.“
Ein kurzer Ausflug in die Ideenwelt moderner Arbeitsämter
Erfahrungsbericht 4
„Als Politikwissenschafter hinter dem Bus-Lenkrad – und glücklich(er) dabei.“
Abschied vom Fördern und Fordern
Internationale Ideen zum Grundeinkommen
Abschnitt 2
Menschenwürdige Arbeit
Der Wert der Arbeit kommt aus der Gerechtigkeit
Erfahrungsbericht 5
„Mehr Chancen und ein Polster, um etwas auszuprobieren, das wäre gut.“
Die Verähnlichung von Erwerbsarbeit und Nichterwerbsarbeit
Erfahrungsbericht 6
„Um die Menschen soll es sich drehen, nicht um Zahlen und Geld.“
Abschied vom Ideal der Erwerbsarbeit
Erfahrungsbericht 7
„Bei uns bist du kein Historiker mehr – sondern der Lehrbub.“
Abschnitt 3
Das halbe Grundeinkommen im Gerechtigkeitscheck
Gerechtigkeitsdimension „JUST 1“ – Nützlichkeit und Finanzierung
Gerechtigkeitsdimension „JUST 2“ – Freiheit und Würde
Gerechtigkeitsdimension „JUST 3“ – Werte und Tugenden
Schluss
Postskriptum Fiktiver Erfahrungsbericht
Leben mit dem halben Grundeinkommen
Amtliche Aussendung zur Arbeitsmarktlage Ende Mai 2031
Die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ist der zweite Schritt. Der erste Schritt auf unserer Reise zu einer gerechteren Arbeitsgesellschaft ist die Einführung eines halben Grundeinkommens. Vor dem Abmarsch muss aber noch die moralische Arbeitsmarktreform in den Rucksack, deren Verwirklichung, von der Öffentlichkeit noch unbemerkt, bereits begonnen hat. 1
Die Planungsarbeiten für diese Reise haben durch die Corona-Krise eine unerwartete Beschleunigung erfahren und gleichen plötzlich eher der hastigen Vorbereitung einer Flucht: Mit der neuen Massenarbeitslosigkeit hat ein tektonisches Beben die ethischen Grundfesten unserer Arbeitsgesellschaft erschüttert, nachdem Strukturwandel und Digitalisierung, maulwurfsgleich, das Erdreich darunter schon an vielen Stellen ausgehöhlt hatten. Niemand kann mehr mit Gewissheit sagen, ob nicht bereits das ganze Haus einzustürzen droht.
Die Corona-Krise ist ohne Zweifel eine „Leben und Bewusstsein tief zerklüftende Wende und Grenze … mit deren Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat.“ 2Vor „Corona“ regierte jedenfalls noch das „Fördern und Fordern“ in nahezu ungetrübter Herrlichkeit. Diese schmale Formel prägte drei Jahrzehnte lang unser Verständnis von Gerechtigkeit in Wirtschaft und Staat und faszinierte nicht nur die leitenden Beamten der Sozialbehörden und die Interessenvertreter von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, sondern weite Teile der Bevölkerungen in allen reichen demokratischen Nationen. In dieser Formel schienen die guten und die bösen Engel unserer Seelen glücklich erkannt und versöhnt. Das alte Prinzip von „Geben und Nehmen“, gefühlt so uralt wie die Evolution selbst und gleichzeitig so jung wie die Vorstellung einer solidarischen Hochleistungsgesellschaft 3, hatte nicht nur seinen griffigen Ausdruck, sondern auch seine mächtige technokratische Praxis in den Institutionen gefunden.
Auch philosophisch betrachtet schien alles plausibel: Wenn der Staat tatsächlich „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“ 4in ihrer jeweiligen geschichtlichen Form ist, dann durften fast zwei Generationen mit dem „Fördern und Fordern“ einen sittlichen Höhepunkt erleben, indem sie Idealismus und Realitätssinn im Hinblick auf die moralische Vertrauenswürdigkeit des Menschen integriert fanden. Eine recht lange Zeit schien nichts verständlicher und vernünftiger als dieses Prinzip, das unter dem leuchtenden Banner der Chancengerechtigkeit zu segeln behauptete. Jetzt, mit Corona, wissen wir: Ein geschichtlicher Endpunkt war auch das meritokratische „Fördern und Fordern“ nicht. Schon allein, weil nicht mehr so recht klar ist, was genau noch von den Arbeitslosen gefordert werden kann und darf, wenn die Arbeitsplatzlücke immer tiefer klafft.
Abschied vom „Fördern und Fordern“
Standen im Jahr 2019 den knapp 900.000 von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen in Österreich noch 521.000 beim staatlichen Arbeitsmarktservice (AMS) gemeldete offene Stellen gegenüber, 5so macht die abwechselnd aufbrandende und dann wieder schwelende Corona-Krise dieser noch halbwegs funktionalen Balance auf längere Sicht den Garaus.
Denn es ist nur mehr wenig sinnvoll, weiterhin davon auszugehen, die staatliche Stellenvermittlung mit ihren gesetzlichen Pflichten für Arbeitslose sei gerecht, wenn nur mehr der kleinere Teil der Betroffenen überhaupt Stellenangebote bekommen kann. Schon davor war das störrisch hohe Ausmaß der strukturellen Arbeitslosigkeit ein schmerzlicher Pfahl im Fleische einer sich partout optimistisch gebenden, gebetsmühlenartig auf Qualifizierung 6setzenden Arbeitsmarktpolitik. Dass die bekannten Asymmetrien und Diskrepanzen am Arbeitsmarkt weiterhin dialektisch-produktiv sind, scheint nur mehr für den kleineren Teil der Arbeitslosen plausibel und gültig. 7
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