1 ...6 7 8 10 11 12 ...31 »Was machst du denn im Schrank?«, fragte Marie laut in das leere Zimmer, um auch den letzten Rest ihres Schreckens loszuwerden. »Du bist mir ja eine schöne Heilige, mit der Oberweite«, grinste sie dann. Die dargestellte Heilige war eine junge Frau mit langem blondem Haar und stattlichem Dekolleté. In den Händen hielt sie einen kleinen Turm; ihre Miene hatte einen leidenden Ausdruck. Marie legte den Kopf schief. Es war eine Figur, wie sie in Kapellen stehen, nicht in Wohnhäusern und schon gar nicht in Schränken. Wo die beiden Schranktüren rechts und links der Heiligen zurückgeschlagen waren, sah das allerdings ein wenig wie ein Altar aus. Ein Haus-Altar?
Marie sah von der Figur zu ihrem Sockel; aber es war gar kein Sockel, es war eine Truhe. Eine hölzerne Truhe, mit Eisen beschlagen. Was war darin? Sofort wollte Marie es wissen! Sie hatte keine Lust, die Heilige anzufassen, hob sie aber doch aus dem Schrank, um den Deckel der Truhe zu öffnen. Sie sah hinein. Ha, da waren sie also, die alten Fotoalben! Sie hatte sich schon gefragt, wo Elodie ihre persönlichen Dinge aufbewahrt hatte.
Marie griff nach dem obersten Album. Es enthielt jedoch keine Fotos, das Album entpuppte sich als Mappe mit Zeichnungen.
Auf dem Rand des alten Bettgestells sitzend, blätterte Marie langsam die Zeichnungen durch. Sie waren alle datiert und signiert; Marie konnte den Namen »Elodie Cadiou« entziffern. Es waren Modezeichnungen aus den sechziger Jahren, und Marie hatte ja gewusst, dass ihre Großtante Modemacherin gewesen war, und keine unbekannte. Trotzdem hatte sie nicht gewusst, dass Elodie so gut, so künstlerisch zeichnen konnte. Marie ließ sich Zeit zum Bewundern jedes einzelnen Blattes, bevor sie sich die nächste Mappe holte. Es gab davon in der Truhe, soweit sie es im Halbdunkel des Schrankes erkennen konnte, zwei dicke Stapel.
Marie hatte alles um sich herum längst vergessen. Fasziniert war sie Mappe für Mappe durchgegangen und hatte nebst den Modeentwürfen aus verschiedenen Jahrzehnten die Zeichnungen von Menschen entdeckt – Portraits, die Elodie von Freunden oder Geliebten gemacht hatte, und Aktzeichnungen (die eine oder andere erotische Zeichnung hatte Marie in Verlegenheit gebracht). Aber das, was sie jetzt in den Händen hielt, war anders. Ganz unten aus der Truhe hatte sie diese grün-schwarz eingebundene, an den Kanten beschabte Mappe gehoben. Und die enthielt Bilder von – Heiligenfiguren! Lauter akkurat und aus mehreren Perspektiven gezeichnete Heiligenfiguren! Das fiel nun wirklich aus dem Rahmen. Und dann sah Marie auf das Datum unterhalb einer Signatur. 1943. Sie blätterte weiter. 1943, 1943 … Und da jetzt, 1944 … Aber da war doch Krieg gewesen! Elodie hatte im Krieg Heiligenfiguren gezeichnet? Warum? Und wo? Die stammten garantiert nicht aus einer Kirche, nicht einmal aus einer sehr großen!
Immer erstaunter über die Anzahl der Figuren und die große Präzision der teils mit Aquarellfarbe kolorierten Bilder blätterte Marie den ganzen Stapel durch, war nun fast unten. Da fiel ein kleineres Blatt ihr in die Hände. Sie zog eine Augenbraue hoch. Eine Liste der gezeichneten Figuren. Nach Monaten sortiert. Wie ein Heiligenkalender. Merkwürdig, wirklich merkwürdig.
Sie ließ die Liste sinken und schaute auf die unterste Heiligenzeichnung – heho, das war die Heilige, die vor ihr stand! »Wenn du reden könntest«, warf Marie der Blonden mit der Märtyrermiene bedauernd zu. Dann hob sie die Zeichnung hoch, um sie ins Licht zu halten. Da entdeckte sie, dass doch noch ein letztes Blatt unter ihr verborgen gewesen war. Mit spitzen Fingern nahm sie das Werk aus der Mappe und sah es sich mit gerunzelter Stirn an.
Das war kein Heiliger gewesen. Helle Augen, eine klassisch-gerade Nase, hohe Wangenknochen, ein energisches Kinn. Ja, der Portraitierte war regelrecht schön gewesen – nur – die militärische Mütze mit dem Adlerzeichen darauf, die war doch die eines Deutschen! Marie las hastig das Datum unter der Signatur: 25. Dezember 1943. Weihnachten. Im Krieg! Was hatte Elodie Weihnachten 1943 bei diesem deutschen Offizier gemacht? Hatte er sie gezwungen, ihn zu portraitieren? Aus einer Ahnung heraus wandte Marie das Blatt um. Und da stand es: »Pour mon amour.« Für meinen Geliebten.
Erschrocken ließ sie das Blatt los. Es glitt zu Boden, von wo aus der deutsche Offizier sie höhnisch anzusehen schien. »Nein, das ist unmöglich«, wies Marie sich zurecht und bückte sich nach der schockierenden Zeichnung. Sie verglich die Signatur mit der Schrift auf der Rückseite. Doch ja, dieselbe Schrift, kein Zweifel. Pour mon amour.
»Hier stimmt etwas nicht. Dafür gibt es eine andere, sinnvolle Erklärung«, sagte Marie sich laut, legte fast böse das Portrait zurück in die Mappe, schlug diese zu, warf sie in die Truhe auf den bereits durchgesehenen Stapel, wuchtete die Heiligenfigur darauf, schloss die Schranktüren und drehte den klemmenden Schlüssel. »Nicht zu fassen«, murmelte sie befremdet und beschloss, im Garten Unkraut mit Wurzel auszugraben, anstatt den zweiten Stapel Mappen durchzusehen, der ruhig länger in der Truhe vor sich hinmodern sollte!
Florian hatte die kleinen Straßen genommen. Er hatte die normannische Schweiz kennengelernt, eine Gegend mit sanft geschwungenen Hügeln, weidenden Kühen und Pferden und weiten Aussichten. In der Bucht von Avranches hatte er die berühmte Silhouette des MontSaint-Michel erspäht, jener beeindruckenden Klosteranlage, die auf einer Flutinsel aus Granitfelsen errichtet war und deren höchster Turm wie ein Pfeil in den lichtdurchfluteten Himmel geragt hatte. Dann war er entspannt die Bucht von Cancale entlang gefahren, hatte die alten Windmühlen an den Straßenrändern ebenso bestaunt wie in den kleinen Badeorten die phantasievollen Villen mit ihren Aussichtstürmchen und den großen Balkons. In Saint-Malo hatte er auf der hohen Altstadtmauer gesessen und ein riesiges Eis gegessen, mit Blick auf das glitzernde Meer mit den kleinen Granitinseln darin, bis – und das war ein Schock gewesen – eine große Sturmmöwe ihn attackiert und einen Teil seiner Eiswaffel erbeutet hatte. Zwei äußerst hübsche Bretoninnen hatten ihn gefragt, ob alles »bien« sei; und er hatte die Hürden der Sprachlosigkeit empfunden und kein vernünftiges Wort den beiden Schönen gegenüber herausgebracht.
Später am Tag hatte es dann noch einen Schrecken gegeben, als er die – zumindest kostenfreie – bretonische Autobahn benutzt hatte, aber dafür mit mehr als hundertzehn Kilometern pro Stunde über der Schlucht von Saint-Brieuc geblitzt worden war. Sorry nochmals, Boris. Seitdem fuhr er wieder auf kleinen Straßen; zu weit nördlich, er wusste es, aber er hatte ja Zeit; und die Aussichten, die er soeben genoss, waren atemberaubend. Die ganze Steilküste und die ihr vorgelagerten Inseln, alles war aus rosa Granit! Im goldenen Abendlicht erglühte der Stein fast orangefarben. Die Versuchung auszusteigen, sich auf einen der orange-rosa Felsen zu setzen und den Sonnenuntergang zu erwarten, war schon groß. Aber er widerstand ihr; er wollte nicht erst spät in der Nacht in Mengleuff ankommen.
Andererseits hatte er Zeit genug, um die Eindrücke auf sich wirken zu lassen. Fortan fuhr Florian langsam, langsamer als erlaubt, und den einen oder anderen Fahrer hinter ihm nervte das. Die meisten überholten ihn einfach und gut war’s. Aber irgendwann war da dieser eine, der sich auf das Lichthupen versteifte. Florian war empört und fuhr erst recht nicht schneller. Da setzte der Hintermann im großen Renault endlich zum Überholen an. Shit. Der Renault blinkte nach rechts, als Signal, auch Florian solle an den Rand fahren. Es war ein Auto der Gendarmerie. Florian blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Er hielt hinter dem Polizeiwagen, und prompt stiegen aus dem gleich zwei Gendarme aus. Florian ließ resigniert die Seitenscheibe herunter.
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