1 ...8 9 10 12 13 14 ...31 Müde lenkte Florian den breiten Wagen in ein Gässchen, das immer enger wurde. Dann kam die angekündigte Rechtskurve und Florian fühlte sich stark beengt, als er zwischen dichten Büschen hindurchfuhr. Er sorgte sich um die Rückspiegel und lauerte auf die Hofeinfahrt, die er endlich erahnte, hinter einem weiteren großen Busch. Erleichtert zog er daran vorbei, registrierte aber erschrocken, dass die Pflanzen an dem Cayenne kratzten. Hoffentlich war der Lack nicht beschädigt, Boris würde ihn sonst killen! Florian parkte direkt vor dem kleinen Bruchsteinhaus, das im Scheinwerferlicht angestrahlt wurde, ehe es in der Nacht versank, als er den Motor ausmachte.
Hatte sie das tiefe Brummen eines Motors gehört? Mitten in der Nacht? Unmöglich. Marie wälzte sich auf die andere Seite und versuchte, endlich zu schlafen.
1 Setze ein Dach, wenn du baust, wenn du baust, setze ein Dach.
4. Erste Eindrücke
Staub tanzte in dem Lichtstrahl, der durch die Dachluke eindrang. Staub bedeckte den Nachttisch neben dem Bett. Staub überzog wie Puderzucker den Schirm der Lampe, die auf dem Nachttisch stand, und Staub lag als sichtbare Schicht auf dem Dielenboden. Florians Blick blieb an dem schweren Schrank aus dunklem Holz hängen, der die karge Einrichtung vervollständigte. Der war nicht nur mit Staubflocken bedeckt. Die Fäden eines immensen Spinnennetzes spannten sich von seinen oberen Kanten zur Zimmerwand. Die war aus Feldstein und nur bis auf Mannshöhe verputzt. Weitere Spinnweben zierten die alten Dachbalken und den Rahmen der Dachluke. Die Spinnen selbst bevölkerten gut sichtbar ihre Behausungen.
Danke, Boris, dachte Florian. Und in diesem Moment freute er sich auf das Gesicht seines Kompagnons, wenn der das belgische und die – wie viele waren es? – drei? –, also die drei französischen Strafmandate erhalten würde …
In der letzten Nacht hatte Florian nur noch Strom und Wasser in Betrieb gesetzt und herausgefunden, wo eine Toilette war (Erdgeschoss neben Treppenaufgang; historisches Toilettenbecken mit Kette) sowie das nächstliegende Waschbecken (keines im Toilettenraum, dafür in der Küche). Nun stieg er aus dem Bett, stakste auf den Fußballen über den schmutzigen Boden. Vielleicht hatte er nicht genug geschlafen, ihm fröstelte es; im Schrank mit den Spinnweben fand er einen nur leicht versifft aussehenden Bademantel, den er überzog, und ein paar Schlappen.
Er verließ das Schlafzimmer und erkundete die Räume des Hauses bei Tageslicht. Oben, dem Schlafzimmer gegenüber, fand er eine Rumpelkammer und ein Bad mit Warmwasserboiler und einer Badewanne unter der Dachschräge, mit Wasserhahn und Duschschlauch. Sollte man da etwa im Liegen duschen? Unten befanden sich, abgesehen von der famosen Toilette, die Küche und der Hauptraum des Hauses, der dominiert wurde durch einen langen Esstisch aus massiver Eiche. Dieser Tisch war das erste Möbelstück, das Florian in Boris’ Haus gefiel. Die kleine Wohnecke am allerdings imposanten Kamin hingegen – nun ja; sie bestand aus einer verblasstroten Sitzgarnitur, einer niedrigen Truhe mit einem dickleibigen Fernsehgerät darauf und einem Rattanregal mit ein paar Büchern. Florian zog eines heraus und blies die Staubflocken fort. Ein Bretagne-Reiseführer, auf Deutsch. Immerhin.
Die Küche war ebenso staubig, von Spinnen bewohnt und museumsreif eingerichtet wie der Rest des Hauses. In einem Hängeschrank, dessen Tür ihm beinah ins Gesicht schlug (eine Halterung fehlte) fand Florian wider Erwarten ein paar Lebensmittel: eine Packung Spaghetti, eine Dose Kekse und ein Glas Kaffeepulver; doch das Pulver roch seltsam, und die Kaffeemaschine sah auch nicht vertrauenserweckend aus. So saß Florian am Ende an dem kleinen Tisch mit der Resopalplatte, eine bretonische Trinkschale mit seinem deutschen Schnellkaffee vor sich, den er zubereitet hatte mit Hilfe seines Gießener Wasserkochers. Hoffentlich vermisste Katharina den – hoffentlich vermisste Katharina ihn , ging es Florian durch den Kopf, und er fühlte sich wie zerschmettert.
Aus Frust aß er die halbe Dreihundert-Gramm-Dose der gefundenen Kekse auf, »Galettes bretonnes, pur beurre«. Sie schmeckten erstaunlich lecker. Und dann kam ihm eine Idee, was er tun konnte, um zumindest vorübergehend das Gefühl der Vereinsamung und Trostlosigkeit beiseitezuschieben, das Besitz von ihm ergriffen hatte, und etwas Sinnvolles zu tun. Er holte das Tagebuch seiner Oma und die Tabelle zum Dechiffrieren der alten Schrift.
Im Wohnzimmer setzte er sich an den großen Tisch. Behutsam, neugierig und furchtsam zugleich schlug er das alte Buch auf und begann, angestrengt zu entziffern: »15. August 1942. Die Marineschule war große Klasse. Jetzt geht es in den Krieg, ich weiß gar nicht, ob ich mich freuen soll.« Die weißen Kreuze, Colleville-sur-Mer, der Soldatenfriedhof. Freude auf den Krieg?! Stockend entzifferte er weiter, fand mühsam in die ungewohnten Schwünge, Bögen und Haken der Offenbacher Schrift hinein, vergaß die Zeit und die Umgebung um sich und allmählich wurde aus dem Entziffern ein langsames Lesen und die Geschichte seiner Oma vor Florians innerem Auge lebendig …
Mit einem lauten Schnaufen kommt die Dampflok vor ihnen zum Stehen. Hektische Betriebsamkeit herrscht um sie herum auf dem Bahnhof von Stralsund. Auf dem Bahnsteig sind sie angetreten, die sechzig Funkhelferinnen, darunter Marlene.
Marlene ist stolz und etwas aufgeregt. Fertig dazu ausgebildet, den Funkverkehr mit der U-Bootwaffe zu führen und feindlichen Funkverkehr aufzuzeichnen, wartet sie mit ihren Kameradinnen auf den ersten, echten Einsatz! Ihre Aufgabe ist verantwortungsvoll, hat man ihr und den anderen eingebläut. Die U-Boote müssen die Feinde von der europäischen Küste fernhalten und die Konvois des Nachschubs für das Reich sichern. Ja, der Krieg – jetzt wird es ernst damit. Nicht nur für die Blitzmädchen, wie die Landser die jungen Funkhelferinnen nennen. Neben ihnen stehen hundertzwanzig frisch gebackene Unteroffiziere der Marine am Gleis. Die Stimmung ist angespannt, aber freudig. Alle wissen, der Krieg ist in die entscheidende Phase getreten. Seitdem die deutschen Truppen an der Atlantikküste stehen, ist er so gut wie gewonnen! Fahren sie bis dorthin, bis an den Atlantik?
Der Waggon, der die Funkhelferinnen zu ihrem Einsatzort bringen soll, ist ein betagter Passagierwaggon, mit Plattformen an beiden Enden. Die Fenster sind mit dunklem Papier verklebt. Marlene trägt einen großen Koffer, ihre Kameradin und alte Freundin Gisela einen Seesack über der Schulter.
»Ich wollte, ich hätte auch so einen Seesack«, seufzt Marlene.
»Wenn du willst, tauschen wir, ich hätte lieber einen Koffer«, lacht
Gisela und rempelt Marlene absichtlich leicht an.
»He«, protestiert die und beeilt sich, hinter Gisela das Abteil zu betreten.
Die Abteile sind einzeln, für jeweils sechs Personen. Jedes hat eine eigene Tür zum Bahnsteig. Durch den Waggon gehen, wie es in den modernen Zügen der Reichsbahn möglich ist, geht hier nicht.
Im Abteil, das sie mit Traute (ausgerechnet!) und drei weiteren Kameradinnen teilen, zieht Gisela sofort ihr Federmesser aus der Tasche und schneidet ein Loch in das Tintenpapier, das auf die Fenster geklebt ist.
»Was machst du, das ist verboten«, protestiert Traute, die so gerne ein Spielverderber ist.
»Du brauchst ja nicht rausgucken«, versetzt Gisela und grinst.
»Hört auf zu streiten«, mahnt Marlene und lässt sich gegenüber
Gisela auf den Fensterplatz fallen.
In der Abteiltür erscheint Leutnant zur See Rosen. »Nun, die Damen, alles zu Ihrer Zufriedenheit?«, fragt er, und als sie ihm das versichert haben, wirft Rosen mit Schwung die Abteiltür zu.
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