»Haben wir ein Glück, dass der mitfährt«, seufzt Gisela und lockert sich die Schulter, über der sie den Seesack getragen hat. Rosen ist ein schneidiger Bursche, blond, aber mit dunklen Augen; die Funkhelferinnen schwärmen für ihn.
Um neun Uhr setzt sich der Zug in Bewegung. Im Zentrum des Reichs ist vom Krieg nicht viel zu spüren. Alles ruhig draußen, der Zug nimmt rasch Fahrt auf und gut zwei Stunden später stehen die Waggons auf dem Anhalterbahnhof in Berlin.
»Berlin!«, ruft Marlene sehnsüchtig aus und schaut zu Gisela.
»Wir werden nicht aussteigen dürfen«, gibt die bedauernd zurück. In diesem Moment wird die Abteiltür aufgerissen. »Sie dürfen sich jetzt am Bahnhof die Beine vertreten, der Zug zu Ihren Einsatzorten wird im Laufe des Tages zusammengestellt und dann soll es morgen früh weitergehen«, verkündet Rosen mit strahlendem Lächeln.
»Wo schlafen wir denn?«, will Gisela wissen.
»Ihr Waggon ist ein Schlafwagen, die Sitze werden zu Liegen gemacht und dann können Sie darauf schlafen«, erklärt Rosen.
Marlene und ihre Kameradinnen gehen in der großen Bahnhofshalle spazieren. Es herrscht reger Betrieb, viel Feldgrau ist zu sehen. Soldaten, die auf Heimaturlaub sind; Soldaten mit Marschbefehlen in das ganze Reich, aber auch ein paar Zivilisten, vorwiegend Frauen, eilen zu ihren Zügen. Die vielen Uniformen und die Plakate mit Aufschriften wie »Feind hört mit«, »Gib, was du kannst, für das Winterhilfswerk« sind aber das einzige, was daran erinnert, dass Krieg herrscht.
Den Nachmittag verbringen die Funkhelferinnen aus Marlenes Abteil mit Spielen. Verpflegung kommt aus der Gulaschkanone. Am Abend richten die jungen Frauen bald ihre Betten und gehen schlafen.
Was ist das? Von draußen hört Marlene das Getrappel vieler Stiefel. Das hat sie geweckt. »Gisela, bist du wach?«, fragt sie ins Dunkel. Jetzt sind Flugzeuge zu hören – Explosionen!
»Wir müssen raus«, ruft jemand; dann gibt es viel Gedränge im Abteil, bis sie sich auf den Bahnsteig schieben. Dort hallen Kommandorufe wider, Rosen eilt auf sie zu. »Es gibt nicht genug Schutzräume«, ruft er ihnen aufgeregt entgegen. »Der Feind kommt aus dem Westen. Die Bolschewiken haben keine Flugzeuge mit solcher Reichweite!«
Die Flieger scheinen gleich über dem Bahnhof zu sein, wie nah und laut die Explosionen über ihnen! Aber dann – nein, Marlene irrt sich nicht – entfernen sich die feindlichen Flieger. Ist die Gefahr vorbei? Wirklich? Doch nach Minuten scheint es wirklich so. Die Frauen sehen sich an, wollen wieder in ihr Abteil gehen.
Gisela drückt Marlene flüchtig die Hand.
»Meinst du, unser Viertel …«, beginnt Marlene besorgt …
Florian hielt inne. Was sollte das heißen, unser Viertel? Die Funkhelferinnen waren in Berlin – seine Oma stammte aus Wetzlar! Ein flaues Gefühl beschlich ihn. Er hatte nicht einmal geahnt, dass seine Oma im Krieg Funkhelferin gewesen war, und jetzt wollte das Tagebuch ihn mit einer weiteren überraschenden Information konfrontieren? Er kannte doch seine Oma – meinte doch, sie zu kennen! Mit neuer Anspannung las er weiter.
»Meinst du, über unserem Viertel …«, beginnt Marlene besorgt, aber bevor Gisela antworten kann, ruft Rosen von hinten: »Wir warten noch! Vielleicht kommt noch eine Angriffswelle.«
Müde und verstört warten Marlene und ihre Kameradinnen eine ganze Zeit lang, bis Rosen endlich Entwarnung gibt.
»Der wollte sich doch nur wichtigmachen«, schimpft Gisela, endlich im Abteil.
Marlene liegt noch lange wach. Sie ist im Krieg. Sie hat den Bombenangriff unversehrt überstanden. Und ihre Familie? Neuigkeiten von daheim werden sie erst erreichen, wenn sie an ihrem Einsatzort ist und den Eltern geschrieben hat, wo sie sich befindet.
Der Zug fährt durch eine wunderschöne Landschaft. Auch die brave Traute nutzt inzwischen jede Gelegenheit, durch die verbotenen Löcher zu schauen, die Gisela in die Papierverdunklung geschnitten hat. Zweiundzwanzig Personenwaggons und dazu mehrere Tieflader mit militärischem Gerät ziehen die beiden Dampflokomotiven durch das fremde Land. Auf dem ersten und dem letzten Tieflader sind Flugabwehrgeschütze aufgebaut. Doch bislang mussten sie noch nicht eingesetzt werden.
Sie sind in Frankreich, in der Normandie. Doch hier werden sie nicht bleiben. Rosen hat von den neuen U-Boothäfen am Atlantik gesprochen. Sie fahren also in die Bretagne, noch viel weiter in den Westen! Von dort werde der Krieg entschieden, hat der Leutnant feurig gesagt.
Von Berlin war der Zug zunächst einen Tag und eine Nacht Richtung Frankreich gefahren. Die vielen Stopps hatten auf die Stimmung gedrückt. Am achtzehnten August hatte der Zug dann im Bahnhof Metz gestanden – die Strecke nach Paris war gerade zerstört gewesen. Gestern Abend haben sie endlich Dieppe erreicht. Auch hier sind Geleise zerstört; aber die Eisenbahnpioniere arbeiten hart an der Reparatur, so Rosen. Nun steht der Zug also bei Dieppe auf einem Abstellgleis. Verlassen darf niemand die Waggons, trotz der brütenden Hitze. Erst abends erlaubt Rosen, zumindest für eine Weile die Türen zu öffnen.
Vier Tage in dem Abteil haben dazu geführt, dass die jungen Frauen noch vertrauter miteinander sind, als sie es in der Marineschule schon waren. Das hilft, die Strapazen der Reise zu überstehen. Es ist gut, solche Kameradinnen um sich zu haben.
Marlene schreckt hoch. Es muss mitten in der Nacht sein, sie hat tief geschlafen. Doch plötzlich, heftiges Maschinengewehrfeuer, Explosionen! Gisela und sie spähen angestrengt durch ihre Gucklöcher. Überall Feuergefechte und feindliche Soldaten! Im Licht der Flakscheinwerfer sieht Marlene Fallschirmspringer zu Boden schweben. Manche werden noch in der Luft von den Maschinengewehrsalven getötet. Traute hat sich auf ihrer Liege zusammengekrümmt und weint leise vor sich hin.
Zwei Stunden dauert der Spuk, dann wird es am Bahnhof endlich ruhig. Heftige Gefechte sind nur noch aus der Ferne zu hören. Rosen öffnet die Abteiltür. »Es ist vorbei, meine Damen«, verkündet er heftig.
Die Frauen steigen unsicher aus dem Waggon. Rosen hat einen Karabiner, den er ständig im Anschlag behält. Sie sind noch keine fünf Schritte gegangen, da löst sich aus dem Dunkel die Silhouette eines Mannes, eines Mannes mit erhobenen Armen. »I surrender«, ruft er laut und tritt ihnen entgegen.
Rosen reißt den Karabiner hoch und schießt. Der Mann fällt auf sein Gesicht.
»Aber – aber er hat sich doch ergeben!« Marlene kann nicht fassen, was sie angesehen hat.
Rosen fährt zu ihr herum. Marlene schreckt vor dem harten Glanz seiner Augen zurück.
»Das war ein Trick, der Feind ist heimtückisch«, sagt Rosen, mühsam beherrscht. Dann spielt ein merkwürdiges kleines Lächeln um seine Lippen, als er hinzusetzt: »Sie müssen noch viel lernen, Fräulein Probst …«
Marlene sieht weg.
Sie und ihre Kameradinnen gehorchen wortlos, als der Leutnant sie zurück in den Waggon drängt.
Schweigend sitzen sie in ihrem Abteil.
»So ein Schwein«, sagt Gisela in die Stille.
Marlene geht Rosens kalter Blick nicht aus dem Kopf, sein merkwürdiges Lächeln, seine herablassende, gönnerhafte Belehrung. Und diesen Mann hatte sie attraktiv gefunden? Eine Gänsehaut überkommt sie. Und: Oh nein, es gibt Dinge, die ich nicht lernen will und niemals lernen werde, rebelliert sie innerlich!
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