»Was ist das?«, fragte Florian vom Bett aus.
Ruckartig klappte Marlene die Kladde zu und zögerte. Sollte sie wirklich? Sie sah in das arglose Gesicht ihres Enkelsohns. »Ausgerechnet Crozon«, sagte sie halblaut und mehr zu sich selbst. Ein Wink des Schicksals, setzte sie in Gedanken hinzu. Dann ging sie zu Florian und hielt ihm das Buch hin. »Ich möchte, dass du das mitnimmst, in die Bretagne. Würdest du es lesen?«
Florian schlug seinerseits die Kladde auf. »Ist das ein Tagebuch? Etwa aus dem Krieg?«, fragte er schwach, mit Blick auf die Jahreszahl 1942. Das einzige, das er ohne weiteres entziffern konnte.
»Genau«, Marlene nickte.
»Das ist in Sütterlin geschrieben«, murmelte Florian, intuitiv voller Abwehr gegen die ungeahnte Vergangenheit seiner Großmutter, ihre aktive Teilnahme an diesem unsäglichen Krieg.
»Das ist gar keine Sütterlinschrift, das ist die Offenbacher Schrift!«, korrigierte Marlene ihren Enkel.
»So.« Florian zog eine Augenbraue hoch.
»Ja. Kannst du die nicht mehr lesen? Das lässt sich schnell lernen.« Florian sah seine Oma bittend an. Konnte sie nicht verstehen, dass
es ihm ohnehin schlecht ging und dass es nicht der richtige Zeitpunkt war, ihm ihre Kriegserinnerungen zum Lesen zu geben? Kriegserinnerungen! Von der Westfront, so sagte man wohl?
»Schon gut, wenn du nicht willst«, sagte Marlene bekümmert und hastig und wollte das Tagebuch wieder an sich nehmen.
Florian hielt die Kladde fest und zwang sich zu einem Lächeln.
»Natürlich werde ich dein Tagebuch lesen, Oma, wenn du das möchtest. Bestimmt gibt es im Internet Schrifttabellen der Sütterlinschrift.«
»Offenbacher Schrift, Sütterlin war davor. Schön. Schön schön«, murmelte Marlene, halb erleichtert, halb alarmiert.
»Oma – erwarten mich da sehr schreckliche Enthüllungen in deinem schwarzen Buch? Hast du deshalb nie jemandem von uns verraten, dass du mal an der Westfront warst? Oder weiß Mama davon?«
Marlene befeuchtete ihre Lippen, ehe sie antwortete: »Deine Mutter weiß nichts. Aber – ich habe auf Crozon etwas ganz Wunderbares erlebt, etwas Unvergessliches. Zugleich war es auch schrecklich, ja; daher, wer wollte nach dem Krieg schon über solche Dinge reden? Und dennoch: Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, ich würde es nie, niemals ungeschehen machen! Und wenn du am Ende alles gelesen haben wirst, wirst du verstehen, warum.« Sie sah ihren Enkel an; treuherzig, bittend, ängstlich.
»Ich lese dein Tagebuch Oma«, wiederholte Florian sein Versprechen und nahm die alte Frau in die Arme.
Nachdem ihr Enkelsohn gegangen war, konnte Marlene sich nicht einfach wieder in den Sessel setzen und Zeitung lesen. Crozon! Dass ihr Tagebuch nach Crozon reisen sollte, ohne sie, aber mit Florian, das bewegte sie zutiefst. Was würde er von ihr halten? Und war es richtig gewesen, ihn abreisen zu lassen? Hätte sie darauf beharren sollen, dass er bleiben möge, um mit seiner Katharina zu reden? Für seine Ehe war die Reise in die Bretagne nicht gut, bestimmt nicht! Und doch hatte sie, seine Oma, nichts getan, um ihren Enkelsohn aufzuhalten. Nein. Sie hatte ihm die Kladde gegeben und ihn aufgefordert, sie dorthin mitzunehmen – ja, sie hatte sich sofort in die Vorstellung vernarrt, wie Florian die Orte sehen würde, an denen es damals geschah – diese Orte, die mittlerweile in ihrem Gedächtnis verschwommen waren, doch manchmal, in Träumen, erschütternd real wiederauftauchten … Ach, was würde er von ihr und alledem halten? Fortan würde sie keine ruhige Minute mehr haben. Sie würde mit dieser Frage leben müssen: Wie viel weiß er schon?
Zu Florians Erleichterung war Katharina nicht da, als er nachhause kam. Er packte eine kleine Reisetasche mit Kleidung, schob das Tagebuch seiner Oma dazu, suchte und fand im Internet eine Buchstabentafel mit der Offenbacher Schrift und druckte sie aus. Dann suchte er per Routenplaner eine Reiseroute nach Mengleuff auf der Halbinsel Crozon, fand zwei Varianten und druckte die kostengünstigere Nordroute über die Normandie ebenfalls aus. Boris’ Protzauto hatte zwar ein Navigationssystem, aber Florian hatte keine Lust, sich damit vertraut zu machen.
Fast hätte er das Wichtigste vergessen, den Haustürschlüssel, die Bretagnekarte und das Blatt mit Tipps und Regeln, das Boris ihm noch gegeben hatte. Er steckte alles zu den anderen Dingen in die Reisetasche. Dann ging er an das Telefon, griff nach einem Zettel und einem Stift. »Bin für ein paar Tage weg, Florian«, schrieb er, drehte den Stift zwischen den Fingern, setzte aber nichts weiter hinzu. Er legte die Mini-Nachricht auf den Küchentisch, dann fiel ihm ein, den Wasserkocher mitzunehmen. Und ein Glas Schnellkaffee. Nur für alle Fälle, um an seinem ersten Morgen in der Bretagne zumindest damit versorgt zu sein. Boris hatte aufreizend wenig zur Ausstattung seines Ferienhauses gesagt.
Vor dem Haus erwartete ihn der Porsche Cayenne. Florian stieg ein und runzelte die Stirn. Zu viel Hightech-Schnick-Schnack, für seinen Geschmack. Sowieso, er mochte keine SUVs. Er startete. Vor ihm lag eine Reise von tausendzweihundert Kilometern. Genug Distanz zwischen ihm und Katharina.
Ein Lichtblitz riss Florian aus seinen Gedanken. Wie hatte er das Vergessen können? In Belgien waren nur hundertzwanzig Stundenkilometer auf der Autobahn erlaubt! Zermürbt rieb er sich die müden Augen. Er brauchte eine Pause.
In einem Rasthof bei Lüttich aß Florian ein lappiges Sandwich und trank dazu Kaffee. Währenddessen holte er das Handy aus der Tasche und schaltete es ein. Sofort piepte es los, er hatte mehrere neue Nachrichten. Hastig schaute Florian die Absender durch. Da! Vier von Katharina! Und eine von Boris. Er zwang sich dazu, die von Boris zuerst zu lesen: »Habe Verwalter informiert«, stand auf dem Display. Soso, es gab sogar einen Verwalter. War echt freundschaftlich von Boris, ihm so beizustehen. Nein, er würde ihm jetzt nicht den Tag versauen durch die Ankündigung eines Strafmandates. Das würden sie später regeln, wenn es soweit war. Und – Katharina? Nein. Nein, es war ausgeschlossen, dass ihre Nachrichten Zärtlichkeiten enthielten. Eher das Gegenteil. Er schaltete das Handy aus und verließ die Raststätte.
War es die hohe Temperatur, war es seine Müdigkeit bei gleichzeitiger innerer Unruhe? Von dem Moment an, in dem er in Nordostfrankreich von der Autobahn abfuhr, um Mautgebühren zu sparen, geriet Florian in einen merkwürdigen Zustand. Wie in Trance sah er eine Landschaft an sich vorüberziehen, die er trostlos fand wie seine Stimmung. Weite, ebene Flächen; riesige Felder, auf denen Heuwürfel sich stapelten. Weiler, die nur aus einer Durchfahrtsstraße bestanden mit Häusern aus dunkelrotem Backstein. Dann wieder Menschenleere, nur die Spitzen entfernter Kirchtürme zeigten hier und da verstreute Ortschaften an. Friedhöfe lagen an der Landstraße, lauter Soldatenfriedhöfe aus dem ersten Weltkrieg.
In Amiens rüttelte Florian sich wach, stärkte sich mit Pizza und weiterem Kaffee, entdeckte auch ein sympathisch aussehendes Hotel nahe der Kathedrale, war aber zu aufgewühlt, um an Schlafen zu denken. Also weiter. Immer weiter, Richtung Westen, vorbei an riesigen Feldern von Windrädern. Im Gegenlicht der untergehenden Sonne sahen sie schön aus, mit ihren regelmäßigen, majestätischen Flügelbewegungen, aber auch bedrohlich, wie Wesen mit einem Eigenleben aus einem Science-FictionFilm. An Aumale vorbei, in die Normandie. Die Landschaft nun hügelig, mit Dörfern aus alten Fachwerkhäusern. Forges-les-Eaux, ein Miniatur-Kurort mit Kasino und einem See, über den weiße Schwäne ihre Kreise zogen. Und dann – zack! Florian blinzelte. Der zweite Blitzer des Tages! »Sorry, Boris«, sagte Florian laut und bretterte trotzig weiter.
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