Sie ging in den Anbau mit dem Badezimmer, öffnete die Luke im Dach; ging dann über die Holztreppe nach oben. Ihr wurde bewusst, dass sie niemals im Obergeschoss gewesen war; Elodie hatte es nicht erlaubt. Gespannt drehte sie den Knauf der linken Tür. Ein eisernes Bettgestell und ein alter Schrank, sonst nichts. Aber aus den Erzählungen ihres Großvaters Erwann wusste sie, dass er und seine Brüder hier geschlafen hatten, vor … bald hundert Jahren, ja … Beklommen trat Marie ein, öffnete auch hier Fenster und Dachluke, sah sich noch einmal nach dem Bettgestell einer anderen Zeit und dem schweren Schrank um, verzichtete vorerst darauf hineinzusehen und betrat stattdessen den Raum rechts des Treppenabsatzes. Elodies Schlafzimmer.
Der alte Schrank hier war mit seinen Schnitzereien und der Spiegeltür schöner als der im Nebenraum; aber das kurze alte Bett unter dem Kruzifix an der Wand wollte Marie nicht gefallen; brrr, sie konnte sich nicht vorstellen, darin zu schlafen. Es war noch gemacht; es sah aus, als erwartete es Elodie – eine Tote …
Marie ging wieder nach unten. Da war es noch, das einstige Schrankbett. Das war einmal Elodies erstes Bett gewesen, als Kind hatte die Arme kein eigenes Zimmer gehabt. Und da – da war das Büffet mit dem alten Geschirr ihrer Vorfahren – und da – das indische Schränkchen… Marie trat darauf zu, strich flüchtig mit den Fingern darüber. Sie hinterließen eine Spur in der Staubschicht. Kurz zog sie einen Türflügel des kleinen Möbelstücks auf. Alle noch da, ihre Schätze. Als wäre die Zeit stehengeblieben…
Marie blinzelte. Für einen Moment war sie wieder das kleine Mädchen gewesen, das nach dem Crêpes-Essen mit den Dingen aus diesem Schrank spielen durfte. Sie drückte die Tür des Schränkchens wieder zu, ließ sich auf einen staubigen Stuhl fallen, stützte die Arme auf den hölzernen Esstisch auf und weinte.
Drei Stunden später hatte Marie Strom und Wasser in Betrieb genommen, einen Eimer aufgetrieben und die Hortensien begossen, altes Putzzeug gefunden und das Hausinnere gereinigt, bis sie es einigermaßen hygienisch fand. Jetzt fühlte sie sich zermalmt von den Ereignissen des Tages. Aber sich auf Elodies altem Bett ausstrecken, konnte sie einfach nicht.
Sie holte Reisetasche, Schlafsack und Isomatte aus dem Auto und suchte das zugewucherte Heckenloch, durch das man vom Feldweg aus den Garten betrat. Ihren Garten. Sie bahnte sich einen Weg durch das hüfthohe Gras. Die Feldsteine an der Rückwand des Hauses fühlten sich unter ihren Händen noch warm an. Nahe der Wand trampelte Marie das hohe Gras nieder und breitete Isomatte und Schlafsack aus. Sie setzte sich in das Nest, das sie sich zwischen den hohen Grashalmen geschaffen hatte. Die Grillen zirpten jetzt neben ihr, das Gras duftete herb. Marie holte einen Apfel und eine Flasche Wasser aus ihrer Reisetasche. Langsam aß und trank sie. Mit der Dämmerung kam ein kühler Luftzug. Marie legte sich auf den Rücken und deckte sich halb mit dem Schlafsack zu.
Es war der vierzehnte Juni. Sie würde sich dieses Datum merken. Der Tag ihres Neuanfangs, in Mengleuff. Sie versuchte, ihren Kopf von allen Gedanken zu leeren. Sah zu, wie der Himmel über ihr sich allmählich dunkelblau färbte. Fledermäuse huschten über den Garten hinweg, eine Eule rief, hell traten die ersten Sterne vom klaren Himmel hervor. Irgendwann kroch Marie in ihren Schlafsack, drehte sich auf die Seite, zog die Knie an und schlief ein.
2. Verlassen
Florian drehte den Schlüssel und drückte die Wohnungstür auf. Ein Schwall stickig-warmer Luft drängte sich ihm entgegen. Die Wohnung lag im zweiten Stock, es war ein besonders heißer fünfter Juli gewesen und die Sonne hatte den ganzen Tag gehabt, um den Altbau trotz seiner dicken Mauern und hohen Räume aufzuheizen.
»Hallo, ich bins!«, rief Florian aus, während er den Schlüssel an das Bord neben der Tür hing. Keine Reaktion. Katharina war noch nicht zuhause.
Im Bad schlüpfte Florian aus seiner verschwitzten Kleidung, stellte sich unter die Dusche und drehte das kalte Wasser voll auf. Während er einfach nur dastand und sich köstlich kalt berieseln ließ, schloss er die Augen und atmete tief durch. Was für ein anstrengender Tag! Diese Frau Breidenstein brachte ihn noch zum Wahnsinn. Wenn das so weiter ging mit ihren plötzlichen Sonderwünschen, würde der Hausbau nie fertig werden. Er sah sie schon am Tag der Fertigstellung vor ihm auftauchen, um ihm zu verkünden: »Eigentlich wäre es doch besser gewesen, noch zehn Quadratmeter mehr Grundfläche zu haben. Können Sie das noch arrangieren, Herr Reinart?«
Florian drehte das Wasser aus, schnappte sich sein Duschtuch und begann, sich heftig abzurubbeln. Das Tuch um die Hüften gewickelt, ging er ins Schlafzimmer, um frische Kleidung überzustreifen. Nachdenklich musterte er sein Bild in der Spiegeltür des Kleiderschranks. Er beugte sich vor. War das ein graues Haar, an seiner Schläfe? Es gelang ihm, das Haar herauszureißen. Grau war es nicht, eher farblos. Ich werde alt, schoss es ihm durch den Kopf. Angewidert ließ er das farblose Haar zu Boden fallen. Er fühlte sich auch abgespannt in letzter Zeit. Boris hatte Recht, er sollte endlich Urlaub machen. Wollte er ja, aber nicht ohne Katharina!
Was war nur mit ihr los? Natürlich, als Stewardess war sie andauernd auf Reisen. Aber früher hatten sie trotzdem gemeinsame Auszeiten genommen. Sie waren nie in den Urlaub geflogen, sie waren gefahren, mit Florians Auto – dem Karmann Ghia Cabrio von 1957. Das war die Art zu reisen, die Florian liebte: sich den Wind um die Ohren wehen lassen und in gemächlichem Reisetempo über kleine Landstraßen kurven, über die Alpen nach Italien oder die Loire entlang oder nach Südfrankreich … Wie sehr hatten sie beide diese gemeinsamen Fahrten genossen. Er vermisste das. Sie brauchten so etwas mal wieder. Auch, um sich nicht voneinander zu entfremden.
Florian erschrak über diesen Gedanken. War das wirklich der Fall? Entfremdete er sich von seiner Frau – oder sie sich von ihm? Eines stand fest: die Romantik war irgendwo hinter der Alltagsroutine verschwunden. Nun, derzeit war der Karmann in der Werkstatt; aber sobald er wieder fit sein würde, würde Florian Katharina festnageln: Wann verreisen wir zusammen ?
Beschwingt von diesem Gedanken beschloss er, ein Abendessen zu improvisieren, ein Candlelight-Dinner auf dem lauen Balkon.
Das Essen war vorbereitet – Tomate-Mozzarella-Salat mit Walnüssen, da sie keine Pinienkerne mehr hatten, und Basilikum vom eigenen Balkon; und für danach, Risotto mit Krabben. Der Balkontisch war mit dem guten Geschirr gedeckt, Florian faltete noch die Papierservietten zu Fächern. Was jetzt? Unter dem Risotto hatte er den Herd ausschalten müssen, damit es nicht zu trocken wurde; hoffentlich kam Katharina bald.
Aber sie kam nicht. Florian setzte sich erst an den Tisch und trank langsam ein Glas kühlen Weißwein; dann aß er einen kleinen Teller Tomate-Mozzarella-Salat; und als das Risotto längst abgekühlt war, nahm er sich ein Tellerchen auch davon, setzte sich enttäuscht und ungeduldig vor den Fernseher und sah unkonzentriert irgendwelchen Kram an, der über die Mattscheibe flimmerte.
Endlich, endlich hörte er die Wohnungstür in das Schloss rasten. Erleichtert sprang er auf, zwang sich aber dazu, seiner Frau nicht entgegenzustürmen und ihr schon gar keine Vorwürfe zu machen. Lass sie erst einmal in Ruhe ankommen, sagte er sich. Er rief lediglich: »Hallo, Katharina! Bin im Wohnzimmer!«
»Hallo«, kam es gedämpft aus dem Flur zurück.
Dann hörte Florian, wie sie ins Bad verschwand, wo sie eine ganze Weile lang blieb.
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