»Boris, jetzt mach mal halblang. Ich fahre bestimmt nicht von Gießen bis ans Ende der Welt, um aus Rache an Katharina fremde Strandgängerinnen aufzureißen.«
»Die Schlüssel und so weiter muss ich allerdings von zuhause holen, aber das kann ich gleich tun; dauert nicht lange«, fuhr Boris unbeirrt fort und sprang auf.
»Moment! Ich habe nicht ja gesagt!«, protestierte Florian nachdrücklich.
»Nicht nachdenken. Mach’ es oder lass’ es. Nachdenken ist
Frauensache.«
Florian hob abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf. »Sogar wenn ich wegfahren wollen würde, es würde nicht gehen: Ich habe kein Auto! Der Karmann ist in der Werkstatt, und Katharinas Mini kann ich schlecht nehmen.«
Boris blähte die Backen auf. »Für wie lange ist dein Auto noch weg?«
»Bis Mittwoch nächster Woche.«
»Du musst aber gleich abhauen, sonst funktioniert die Strategie nicht. Dann nimm eben meinen Wagen, verdammt, ich hole dann den Karmann von der Werkstatt ab.«
»Tauschen?«, fragte Florian ungläubig.
»Ich behandle deinen Oldie wie ein rohes Ei, versprochen. Dasselbe erwarte ich von dir mit dem Cayenne – du weißt, dass das ein echter Freundschaftsdienst ist, oder?«
Florian nickte. Boris liebte seinen neuen SUV abgöttisch.
»Gut, abgemacht«, wollte Boris die Diskussion schon schließen, aber Florian schüttelte abermals den Kopf. »Boris, deine Idee ist aberwitzig! Ich werde nicht darum herum kommen, mit Katharina zu reden, sogar wenn es nichts bringen sollte. Versuchen muss ich es. Aber mal abgesehen davon, meine Eltern sind im Urlaub. Wenn ich auch weg bin, besucht niemand meine Oma.«
»Besuch’ sie gleich und erklär’ ihr alles. Das versteht die schon. Deine Eltern kommen doch bald zurück, und so lange kümmern sich die Leute aus dem Altenheim um deine Oma. Dafür ist sie schließlich im Altenheim, oder?«
»Und was wäre mit dem Bau am Breidenstein-Haus?«, gab Florian zuletzt zu bedenken.
»Oh, um die Breidenstein kümmere ich mich. Attraktive Frau, die Frau Breidenstein. Nervend, aber attraktiv. Wünsch mir Glück!« Boris grinste anzüglich.
Manchmal fragte Florian sich schon, wie er die Gesellschaft seines Kompagnons an fünf Tagen pro Woche ertragen konnte.
Marlene Braun saß an der offenen Balkontür ihres Zimmers und las Zeitung. Richtige Balkons gab es nicht in dem Seniorenheim in der Moltkestraße, nur sogenannte französische: Statt eines normalen Fensters war eine Balkontür eingebaut, vor der ein Gitter einbetoniert war. Florian hatte diese Lösung schon immer missraten gefunden. Nach wie vor tat es ihm weh, seine Oma hier zu sehen, anstatt in ihrem Nest, ihrem eigenen Häuschen. Das Reihenhaus der Brauns war klein gewesen, aber vollgestopft mit persönlichen Dingen – Dingen, die die kleinen Räume anheimelnd gemacht hatten; Dingen, die Florians Großeltern ein Ehe- und Familienleben lang angesammelt hatten. Wie wenig davon hatte seine Oma in das Heim mitnehmen können! Wenn Florian allein an die vielen Bücher dachte, die zum Teil noch von seinem Opa stammten …
Seine Oma hatte aufgeblickt und ein Strahlen ging durch ihre blauen Augen. »Florian! Guten Tag!« Sie legte rasch die Zeitung beiseite, um sich von ihrem Enkel, ihrem ganzen Stolz, einen Kuss geben zu lassen.
Der ließ sich auf die Bettkante fallen. Es gab nur den Sessel seiner Oma und das Bett als Sitzmöglichkeiten in dem engen Zimmer.
»Geht es dir gut?«, fragte Marlene erschrocken, jetzt wo sie ihren Enkel auf Augenhöhe genauer ansah.
»Nicht so wirklich. Ich glaube, ich sollte mal Urlaub machen. Boris will mich jedenfalls dazu überreden, in sein Ferienhaus zu fahren.«
»Ach, Boris hat ein Ferienhaus? Wo denn? Wann wollt ihr denn hinfahren?«
Florian schluckte, seine Kehle brannte. »Nicht wir , nur ich . Katharina würde nicht mitkommen. Sie …« Er konnte nicht weiterreden. Schon wieder war er nahe am Weinen, das ging nicht!
»Was ist los, Florian?«, fragte seine Oma weich und streckte eine Hand nach ihm aus. Er nahm die alte kleine Hand, die sehr zarten Finger mit den noch immer sorgsam gepflegten Fingernägeln in seine jungen Hände und versuchte zu lächeln. Dann räusperte er sich und sagte schlicht: »Katharina liebt einen anderen. Sie will mich verlassen.«
Bestürzt sah Marlene ihren Enkel an, bestürzt und ungläubig. Wie, ihren Florian? Diesen wunderbaren Jungen? Das konnte nicht sein! Aber ihr Junge begann nun, erst abgehackt, dann immer schneller sprechend von den Geschehnissen am vergangenen Abend zu erzählen.
»Ja, so ist das, Oma«, endete er schließlich. »Ich kann es selbst nicht fassen. Ich hatte keine Ahnung… Das heißt, ich hatte schon in letzter Zeit den Eindruck, wir würden etwas auseinanderdriften, im Alltagsstress – aber dass sie – einen anderen – das ist so ein Schock!«
»Das glaube ich. Nur, Florian, das wirst du doch nicht so stehenlassen? Du liebst doch deine Katharina? Dann musst du um sie kämpfen! Wegfahren ist die ganz falsche Idee!«
»Boris meint, erst der Abstand würde Katharina klarmachen, was sie an mir hätte. Und sie anflehen würde ohnehin nichts nützen. Die Wahrheit ist, ich fühle mich dieser Sache einfach nicht gewachsen!«
Marlene kannte ihren Florian, und sie kannte seine Katharina. Möglich, dass er sich seiner Frau nicht ganz gewachsen fühlte, in dieser Situation. Aber dann musste er sich eben ermannen! »Jetzt hör’ mal zu«, hob sie an, »wenn man im Leben seine große Liebe gefunden hat, dann darf man nicht wegrennen, sobald sie gefährdet ist! Gefährdet heißt noch nicht verloren. Nichts ist schlimmer, als seine große Liebe zu verlieren – und dann auch noch kampflos! Katharina braucht einen neuen Liebesbeweis von dir. Ach, wenn ihr nur Kinder hättet …«
Florian hob abwehrend die Hand. »Ich bin nur froh, dass wir keine haben; das würde jetzt alles noch schlimmer machen! Nein. Ich weiß im Augenblick nicht, was ich tun soll. Der Gedanke, dass Katharina einen anderen liebt, macht mich rasend, und wie soll unser Zusammenleben in der Wohnung aussehen? Wird sie ihren Kerl etwa mitbringen? Ich will Katharina nicht verlieren, aber im Augenblick fühle ich mich so – so ohnmächtig vor lauter Schock; ich muss den erstmal verdauen. Vielleicht ist Boris’ Idee wirklich nicht übel. Abstand, um den Kopf freizukriegen, die Balance wiederzufinden, verstehst du? Und ich werde ihr nicht sagen, wo ich hingehe; soll sie sich ruhig Sorgen machen! Die Bretagne ist so weit weg …«
»Die Bretagne?«, echote seine Oma.
»Ja, da ist Boris’ Ferienhaus.«
»Wo – ist das Haus genau?« Marlene sah ihren Enkel unverwandt an.
»In einem Dorf, ich habe den Namen vergessen. Egal, es liegt auf der Halbinsel Crozon, ganz im Westen.«
Marlene schloss die Augen, atmete tief durch. »Ich weiß, wo Crozon ist. Ich war auch einmal in der Bretagne«, sagte sie dann langsam. »Im Krieg. Da war ich als Funkhelferin auf Crozon stationiert.«
»Nein!« stieß Florian aus. »Du? Du warst im Krieg? Als Funkhelferin ?«
Wortlos rappelte seine Oma sich von ihrem Sessel auf und ging an den Kleiderschrank.
»Was tust du? Soll ich dir helfen?«, fragte Florian schnell, als er sah, wie seine Oma – seine liebe, sanfte Oma, die im Krieg gewesen war?! – sich vor dem geöffneten Schrank auf die Zehenspitzen stellte, um mit den Händen im obersten Fach herumzutasten. Sie wusste genau, irgendwo hinter ihren Hüten musste es liegen … Endlich spürten ihre Finger den Karton des Einbandes. Sie bekam das Buch zu fassen und zog es heraus.
Die Buchdeckel waren einst tiefschwarz gewesen, mittlerweile aber zu einem Dunkelgrau-Lila verblasst. Gedankenverloren sah Marlene ihr teures Buch an und schlug behutsam die erste Seite auf. Sie biss sich auf die Lippen. Wie lange das her war! Am anderen Ende ihres Lebens.
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