1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Ärger tritt in sein Gesicht.
»Warte, Joseph, nicht hier, da kann ja jederzeit jemand vorbeikommen«, sagt Anna. Sie fasst seine Hand. »Komm mit. Ich weiß was.« Sie geht los, zieht ihn hinter sich her, er folgt, betäubt von seiner Geilheit. Am Eingang zu einem Trümmergrundstück hängt ein schwarzer Stofffetzen. Das ist das Zeichen. Ein Pärchen kommt auf sie zu, bleibt stehen. Es sieht aus, als wollten sie dort hinein. Anna rennt los, kommt den beiden zuvor. Sie nicken ihr verschwörerisch zu. Auerbach stolpert, fasst sich an den Kopf. Die Tropfen wirken.
»Alles in Ordnung?«, fragt der Mann.
»Nur ein bisschen viel, Sie wissen schon«, sagt Anna schnell.
Die beiden lachen, gehen weiter. Auerbach hat noch keinen Verdacht geschöpft. Anna schiebt ihn voran. Er murmelt etwas Unverständliches. Anna zieht ein Kondom aus der Manteltasche, zeigt es Auerbach. »Na los, komm schon, worauf wartest du?«
Auerbach zwinkert, ein wässriger Glanz tritt in seine Augen. Er stolpert einen Schuttberg hoch. Oben bleibt er stehen. Anna geht zu ihm hin, packt ihn am Arm. Er schüttelt sie ab. Er hat Bärenkräfte.
»Du miese Schlampe«, nuschelt er. »Ich hätte es wissen müssen.« Er wankt, hält plötzlich eine kleine Pistole in der Hand.
Anna erstarrt, sie bekommt schlagartig keine Luft mehr. Auerbach hebt die Waffe, zielt. Sein Blick verschleiert sich, sie lässt sich fallen, rollt sich zur Seite, Schmerz jagt durch ihre Hüfte, ein Schuss kracht, Auerbach stöhnt auf.
Sie ist nicht getroffen, hebt den Kopf, Auerbach ist den Trümmerberg hinuntergestürzt, er blutet am Kopf. Er darf nicht sterben, bitte nicht. Geduckt läuft sie zu ihm hin, horcht. Er atmet, sie fühlt den Puls. Normal. Die Kugel ist glatt durch seine Schulter hindurch, es blutet nicht stark, der Schock hat ihn gefällt. Kein großes Gefäß ist verletzt, ansonsten wäre er in Minuten tot.
Schritte knirschen über den Schutt. Aus den Augenwinkeln sieht Anna drei Männer, die auf sie zuhalten. Es sind die richtigen. Keiner spricht ein Wort, einer versorgt notdürftig Auerbachs Wunde, dann packen sie ihn, bugsieren ihn durch die Hausskelette, verfrachten ihn in einen Lieferwagen, fahren los, überqueren die Zonengrenze, steuern das MfS an.
Anna sitzt neben dem Fahrer, sie steht noch immer unter Schock. Sie hat nicht mit einer Waffe gerechnet, hat schon den Tod vor Augen gehabt, oder noch schlimmer, hat sich verletzt und verhaftet gesehen. Sie wird sich bei Jukowski beschweren. Die Aufklärung hat geschlampt. Es hieß, er habe keine Waffe. Verdammte Scheiße. Ihr Herz schlägt noch immer so hart in ihrer Brust, dass es schmerzt. Sie schwitzt am ganzen Körper, riecht ihre eigene Angst. Die Kollegen schweigen. Es gibt nichts zu sagen. Sie haben ihr das Leben gerettet, das ist ihr Job.
Jukowski will die Beute persönlich befragen. Anna überwacht wie in Trance die Verbringung von Auerbach in eine Arrestzelle und ordnet medizinische Versorgung und Bewachung an. Sie betrachtet den bewusstlosen Mann. Sie wird ihn nie wiedersehen.
Bundesrepublik Deutschland, München, 26.3.1952
Robert schreckt aus dem Schlaf. Ein rasselndes Geräusch hat ihn geweckt. Es ist nicht der Wecker. Der zeigt Viertel vor sieben, und Robert hat ihn nicht gestellt. Er kann nicht geklingelt haben. Es ist das Telefon.
Er wirft die Decke von sich, springt aus dem Bett, rennt zum Sekretär, stößt einen Stapel Akten um, der einen anderen mit sich reißt. Robert flucht, zerrt den Hörer von der Gabel, lauscht, lächelt.
»Ich war schon drauf und dran, die MP zu schicken, so lange hast du gebraucht.«
Robert erkennt die Stimme. »Hey Will, alter Knabe, woher hast du die Nummer? Ich habe sie eurer Sekretärin nicht gegeben, als ich sie gestern angerufen habe.« Er ist sofort hellwach.
»Kleiner Test, ob ich die Nummer herausfinde, was? Robert, ich bitte dich.«
Will Bower hat in all den Jahren seinen schweren Kentucky-Akzent nicht abgelegt. Er ist Leitender Agent beim Militärischen Abschirmdienst in Deutschland, stammt aus einer Nachbarstadt in Kentucky. Sie haben gemeinsam studiert und West Point absolviert, sich gegenseitig gestützt, wenn sie nicht mehr konnten, nach einem Dreißig-Kilometer-Gewaltmarsch oder zehn Stunden Unterricht in Strategie und Waffenkunde. Im Krieg haben sie gemeinsam gedient, im Feld hat sich ihre Freundschaft bewährt und gefestigt. Nach dem Krieg haben sie sich ein wenig aus den Augen verloren, aber ihre Verbundenheit ist nie abgerissen, auch wenn sie mal längere Zeit nichts voneinander gehört haben. Hier in München haben sie ihre Freundschaft aufleben lassen. Will ist für Robert, was man einen echten Freund nennt, und er hat seine Finger überall drin. Es hätte Robert gewundert, wenn Will seine Nummer nicht gehabt hätte.
»Okay, Robert, wie kann ich dir helfen?«
»Erst mal danke, dass du zurückgerufen hast.«
»Ist doch klar, Rob.«
»Den Test hast du bestanden.«
»Logisch. Sonst hätte ich dich nicht anrufen können. Schleim nicht rum, Rob. Was liegt an?«
»Ich brauche deine Hilfe.«
Will schweigt einen Moment. »Das glaube ich gerne. Du solltest auf dem Weg nach Hause sein. Wir reden am besten unter vier Augen. Was hast du heute Abend vor?«
»Außer Akten fressen, nichts.«
»Dann ist die Sache klar. Die Jungs machen eine kleine Feier im Club. Bist du dabei? Es gibt wirklich gute Musik, wirklich gutes Essen, wirklich klasse Frauen und erstklassige Getränke. Neun Uhr.«
Robert freut sich, seinen Freund wiederzusehen, und er braucht eine Pause. »Überredet. Heute Abend lassen wir es krachen!«
»Darauf kannst du wetten! Bis später.« Will legt auf.
Robert schlurft ins Bad, bewundert die Ringe unter seinen Augen, duscht heiß, rasiert sich. Er hat die letzte Nacht fast nicht geschlafen, und die wenigen Stunden, in denen er vor sich hin gedämmert hat, waren durchzogen von Träumen, mit immer denselben Themen: Blut, Schweiß und Tränen.
Er brüht sich eine Kanne Kaffee auf, trinkt zwei Tassen hintereinander, die heiße, bittere Flüssigkeit versengt ihm den Gaumen. Langsam lichtet sich der Nebel in seinem Kopf. Zwei Tage und zwei Nächte hat er Papiere gesichtet, Akten gewälzt. Er greift zu den Notizen, die er gemacht hat. Ganz oben steht: »Heiderer«. Daneben hat Robert einen kleinen Totenkopf gemalt. Kindisch, aber es hat gutgetan. Robert muss aufpassen, dass er sich nicht zu sehr von seinen Gefühlen leiten lässt. Er wird Heiderer für den Mord an seinem Bruder büßen lassen, wenn er dafür verantwortlich war, das steht fest. Aber er darf Heiderers andere Verbrechen nicht aus den Augen lassen. Er muss sorgfältig Beweise zusammentragen, die Heiderer des Mordes an Ted überführen, und malt sich bereits aus, wie Heiderer anhand dieser in die Staaten ausgeliefert wird, um Adenauer aus der Schusslinie zu bringen. Dann kann er ohne Gesichtsverlust einen anderen Minister ernennen.
Unter den Totenkopf hat er in Stichworten Heiderers Werdegang im Dritten Reich bis 1941 aufgelistet. Eine fast makellose Karriere. Einer der Ersten in der NSDAP, glühender Verehrer von Adolf Hitler, Studium der Wirtschaftswissenschaften, einer der wenigen Experten für den Osten. Beste Verbindungen zu Canaris. Das hat ihm später ein paar Probleme eingebracht, nichts Ernstes. Die Zeit danach interessiert Robert vorerst nicht, denn Heiderer wird seit dem Ende des Krieges, seit er für das FBI arbeitet, lückenlos überwacht. Heiderer hat nach Ende des Krieges nicht versucht, Beweise zu vernichten oder Zeugen zu beeinflussen, geschweige denn zu töten. Er hat sich zu Recht auf seine Seilschaften verlassen und auf seine Nützlichkeit für die neuen Machthaber. Er ist intimer Kenner der Nazi-Szene, er kennt viele Namen und er hilft bei der Einschätzung der Lage im Osten. Er kennt Polen und die Ukraine und Russland bis nach Moskau wie seine Westentasche. Er kennt die Seelen der Menschen, die Strukturen der Macht und die Traditionen, die Land und Menschen geprägt haben. Aus seinen Berichten spricht durchaus Sympathie für Russen, Ukrainer und Polen. Nicht aber für Juden. Er unterstützte Hitlers Ostpolitik, hielt Massenmord allerdings für nicht zweckmäßig, sondern setzte voll und ganz auf Umsiedlung.
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