»Das pfeifen die Spatzen von den Dächern. Und so ganz grundlos sind Stalins Bedenken nicht. Die Lage kann schnell kippen, es gibt viele braune Seilschaften, bis in die höchsten Regierungskreise.«
»Ja, mir sind das auch zu viele Nazis, aber es geht nun mal nicht anders. Stalin befürchtet, dass Deutschland mit uns gemeinsame Sache machen wird, dass wir die Nazis behalten, um den Hass zu schüren gegen Russland. Um zu vollenden, was Hitler nicht fertiggebracht hat.«
»Wollen wir das?«
Will zieht an seiner Zigarre, zeigt auf Robert. »Der Russe klopft an unsere Tür. Das Land ist riesig, die Ressourcen so gut wie unendlich. Menschen, Bodenschätze, Energie. In kürzester Zeit wird die Rote Armee wieder mächtig genug sein, es mit uns aufzunehmen. Zumal wir einen langen Weg haben, um aufs Schlachtfeld zu kommen. Wir können uns einen solchen Feind nicht leisten. Aber die Doktrin ist klar: kein Krieg in Europa. Nur wenn wir angegriffen werden.«
Er pafft den Rauch in Roberts Richtung. Den unverwechselbaren Duft kann man über viele Meter hinweg wahrnehmen.
»Sie wissen, dass wir das wissen. Also fürchten sie, dass wir von Deutschland aus Moskau und halb Russland mit Atomwaffen zerstören, wenn wir uns angegriffen fühlen.«
»So sieht es aus, mein Freund. Heiderer könnte das Zünglein an der Waage sein, die hin zum Krieg ausschlägt. Noch ein Nazi und Stalin drückt den roten Knopf. Wenn Adenauer Heiderer zum Minister macht, muss er sauber sein. Blütenweiß. Du hast einen wichtigen Auftrag.«
»Ich allein soll die Verantwortung für den dritten Weltkrieg tragen? Das kann mir keiner erzählen.«
Will schaut Robert an, zieht die Augenbrauen hoch.
Robert begreift. »Ich bin tatsächlich der Einzige. Ich verstehe das nicht. Wenn Heiderer so wichtig ist, warum dann nur ein Mann?
»Das entzieht sich meiner Kenntnis, Rob. Siehst du, ich weiß auch nicht alles. Ich weiß nur eins: Du musst mehr als vorsichtig sein. Ich werde dir helfen, wo ich kann, aber das wird nicht viel sein. Du kannst mich immer über den Notsender erreichen, das weißt du?«
Robert atmet tief durch. »Ja, und das ist gut so. Immerhin eine kleine Rückversicherung bei diesem Himmelfahrtskommando.«
»Du bist der Beste.«
Robert winkt ab. »Das wollte Morgan mir auch schon weismachen.«
»Du wirst das schaffen, wie immer! Nutze unsere Auslandsstützpunkte, nutze dein Sprachgenie und deine Fähigkeit, dich vollkommen in jemand anderen zu verwandeln. Und jetzt genug davon!« Will zerrt ihn zurück ins Casino, sie leeren in schneller Folge vier Gläser Bowle. Robert fühlt sich beschwingt, die Bowle tut ihre Wirkung, ebenso die Zigarre, die stickige Luft und die schnelle Musik.
Will wirft die Arme in die Luft. »Wir sind die Sieger.« Er zeigt auf die Tanzfläche.
Roberts Leichtigkeit kehrt zurück. Die Band macht gerade eine Pause. Er erblickt eine junge Frau. Sie schaut ihm in die Augen. Er winkt ihr zu. Sie kommt herüber, zieht Robert auf die Tanzfläche, Will lacht, gibt ihm einen Schubs. Die Frau flüstert Robert ihren Namen ins Ohr. »Ich bin Kate. Du bist echt süß. Und ich will heute Nacht nicht allein sein.«
Robert überläuft ein wohliger Schauer. Die Band kommt auf die Bühne, der Sänger zählt bis vier. Der Drummer spielt einen Wirbel über alle Trommeln, dann setzt der Bass ein, Robert frohlockt: »Twist!« Dafür muss man kein begnadeter Tänzer sein. Man muss nur die Hüfte schwingen, die Arme hin und her werfen, ebenso die Beine, immer gegeneinander. Man geht in die Knie, twistet weiter, bis die Muskeln brennen. Robert vergräbt seinen Blick in Kates blaue Augen und vergisst für eine Nacht, dass die Welt ein Jammertal ist.
Deutsche Demokratische Republik, Berlin, 27.3.1952
Anna klopft an die Holztür, die von innen dick gepolstert ist und zum Sekretariat von Alexander Jukowski führt. Zwei Tage sind vergangen, seit sie Auerbach gefasst hat. Zwei Tage, in denen sie im Versicherungsbüro Akten gewälzt hat.
Jukowski ist Generalmajor, gehört dem MGB an, dem mächtigen russischen Geheimdienst, und ist faktisch der Chef der Staatssicherheit der DDR. Jukowski weiß alles, sieht alles, hört alles. Fast alles. Diese verdammte kleine Pistole ist ihm entgangen. Er hat Tausende Spitzel, im Westen wie im Osten.
Christel Neureuther, Jukowskis erste Sekretärin, ruft »Herein«. Ihre Stimme wäre ein gutes Folterinstrument. Sie ist schrill und durchdringt mühelos die gepolsterte Tür. Ansonsten ist sie eine angenehme Person, sie duzen sich, haben einen gemeinsamen Feind: Nazis.
Anna drückt die Tür auf. Sie gibt kein Geräusch von sich, die Angeln sind bestens geölt. Christel nickt nur in Richtung der Tür, die zu Jukowskis Reich führt. Auch diese Tür ist gepolstert, aber viel dicker als die des Sekretariats. Durch diese Sperre dringt kein Laut nach außen, auch wenn Jukowski brüllt. Das will etwas heißen, denn wenn Jukowski jemanden zusammenstaucht, dann könnte er mit seiner Stimme ein startendes Flugzeug übertönen.
Anna nimmt, ohne zu fragen, vor dem riesigen Nussbaumschreibtisch Platz. Vor lauter Papieren, Büchern und Plänen kann man die Tischplatte nicht sehen. Nur eine lederne Schreibunterlage ist frei. Darauf liegt eine aufgeklappte Akte.
Jukowski lächelt. »Liebe Anna, ich darf Sie doch so nennen?«
Sein Deutsch ist akzentfrei.
»Aber selbstverständlich, Genosse Generalmajor.« Jede andere Antwort würde Jukowskis Zorn auf Anna heraufbeschwören.
»Wunderbar, Anna. Was kann ich für Sie tun?«
Anna drückt das Kreuz durch. »Auerbach hatte eine Waffe. Wie kann das sein?«
»Oh«, sagt Jukowski gedehnt, »Da gibt es viele Möglichkeiten. Er hat sie gut versteckt. Er hat sie auf dem Weg zu Ihnen zugesteckt bekommen …«
»Aber ihre Leute …«
Jukowskis Faust fährt auf den Schreibtisch nieder. Es klingt wie ein Pistolenschuss. Anna zuckt nicht mit der Wimper. Sie kennt seine kleinen Tricks, um Menschen einzuschüchtern.
»Meine Leute leisten hervorragende Arbeit. Ihre Leute haben geschlampt, so einfach ist das. Außerdem müssen Sie immer mit allem rechnen.« Er schreit nicht. Das hat er bei ihr nicht nötig. »Sie hätten es fast versaut, weil Sie unaufmerksam waren. Sie hätten ihn bei Kontakt unauffällig abtasten müssen. Das kann nicht schwer sein, der Kerl war doch sicherlich brünstig wie ein Hirsch.« Er lacht dröhnend.
Anna schweigt. Sie ist zu weit gegangen. Jukowski duldet keine Kritik an sich oder seiner Abteilung. »Entschuldigen Sie, Genosse, Sie haben ja recht.«
»Hätten Sie ihn rangelassen? Er sieht gut aus.«
»Nein.« Mehr will sie nicht sagen. Eher hätte sie sich erschießen lassen.
Jukowski klappt die Akte zu, reicht sie Anna. »Kleine Aufmerksamkeit meinerseits. Sie werden Auerbach verhören, schließlich kennen Sie ihn gut. Sie wissen, wo Sie ihn packen können. Eine kleine Abwechslung tut Ihnen gut, und eine kleine Pause. Was halten Sie davon?«
Jukowski erwartet Dankbarkeit. Die soll er haben. »Das ist eine Ehre für mich. Ich dachte, Sie wollten ihn haben, Genosse Generalmajor, er sei wichtig, sagten Sie.«
»Das ist er. Und er läuft mir nicht davon. Machen Sie mit ihm, was sie wollen, nur lassen Sie ihn am Leben und vernehmungsfähig. Ich stelle Ihnen Fahrenbach zur Seite. Wenn Sie grob werden müssen, dann mit der Rasierklinge, nicht mit dem Säbel.«
Anna steht auf und salutiert. »Ich danke Ihnen sehr, Genosse Generalmajor.«
»Schon gut«, sagt Jukowski und winkt sie raus.
Vor der Tür bleibt Anna einen Moment stehen. Sie soll Auerbach ausquetschen? Gemeinsam mit Fahrenbach? Sie hat nicht gewusst, dass Fahrenbach einfühlsam vorgehen kann. Bisher wurde er immer bei den hoffnungslosen Fällen eingesetzt, für diejenigen, die nichts sagen wollten oder konnten, deren Tod nicht ins Gewicht fällt. Kaum jemand hat seine Behandlung überlebt.
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