Sie betrachtet die Akte. Sie ist dünn. Vielleicht zehn oder zwanzig Blatt, sie kennt sie auswendig. Weiß Jukowski, warum sie diesen Mann so hasst?
Vom nächsten Diensttelefon aus ruft sie den medizinischen Dienst an. Auerbach kann erst morgen verhört werden.
Bundesrepublik Deutschland, München, 28.3.1952
Robert schreckt aus einem Albtraum hoch. Er ist nass geschwitzt, neben ihm liegt Kate. Sie sind in ihrer Wohnung, das Bett ist schmal, es gibt nur eine Decke. Sie atmet völlig ruhig, ist anscheinend in tiefem Schlaf. Robert betrachtet ihr Gesicht. Sie ist eine schöne Frau, gebildet, intelligent und sie hat Spaß am Leben.
Eine Stunde nach dem Twist verließen sie zu zweit den Club. Will war nicht beleidigt, er wünschte ihnen eine angenehme Nacht. Und so war es gekommen. Kate hat Erfahrung mit Männern, Robert mit Frauen. Sie tasteten ihre Vorlieben ab und ließen sich Zeit. Es stimmte zwischen ihnen.
Er streicht ihr eine Strähne aus dem Gesicht, horcht in sich hinein. Ob Kate eine Frau ist, mit der er sein Leben verbringen könnte? Ist er in sie verliebt? Er möchte sie wiedersehen, möchte sie näher kennenlernen. Ja, er ist ein wenig in sie verliebt. Aber wie steht es mit ihr? Ist er nur ein One-Night-Stand? Einer von vielen? Sie kann jeden haben, daran zweifelt er nicht.
Ihre Lider flattern, sie öffnet kurz die Augen, kuschelt sich an ihn. Ihre Haut ist warm und weich wie Samt. »Schön, dass du nicht abgehauen bist«, murmelt sie. »Hast du schon geduscht?« Sie lacht leise. »Frühstücken wir zusammen?«
»Ja«, antwortet Robert, »gerne.« Wann hat er das letzte Mal mit einer Frau morgens am Tisch gesessen? Es muss vor dem Krieg gewesen sein. Und die letzte war wahrscheinlich seine Mutter und keine, mit der er das Bett geteilt hat. Die einzige Frau, die jemals bei ihm zu Hause übernachtet hat, war die quirlige Priscilla, die nur wenige Wochen später an die Westküste gezogen war. Damit war ihre Beziehung beendet.
Es gibt Toast, Tee und Orangenmarmelade. Kate kommt aus der Nähe von London. Sie haben nicht viel geredet, aber das hat Robert erfahren. Er bestreicht den Toast mit Butter und einer dünnen Schicht Marmelade. Er beißt ab. Sie schmeckt bitter und süß zugleich. Angenehm. Er wird sich ein Glas besorgen.
Kate nimmt einen Schluck Tee aus einer zierlichen Tasse und schaut ihn aus ihren blauen Augen an. »Die Bombennächte habe ich nur von Weitem erlebt. Nachts habe ich mich mit meinen Schwestern nach draußen geschlichen. Wir waren fasziniert von dem Grollen und dem Wetterleuchten und dachten zuerst tatsächlich, es seien Gewitter.« Ihr Gesicht verfinstert sich. »Als wir wussten, was es war, konnte ich kaum noch schlafen.«
»Hast du Verwandte in London gehabt?«
Kate setzt die Tasse ab, nimmt Roberts Hand, Tränen glitzern in ihren Augen. »Elisabeth. Meine Lieblingstante. Sie haben nicht mehr viel von ihr gefunden. Eine V2.«
Robert zieht Kate auf seinen Schoss, nimmt sie in die Arme, streicht ihr über den Kopf. Sie weint leise. Robert beneidet sie darum. Er hat das Weinen verlernt. Zu viele hat er sterben sehen. Alte Freunde und neue. Und vieles hat er einfach vergessen, sein Gedächtnis hat Dinge gelöscht, die nicht zu ertragen, nicht zu verarbeiten sind. Eine Gnade, die nicht jedem zuteilwird. Aber nicht alles kann er vergessen, nicht alles will er vergessen. Er denkt an seinen Bruder, der irgendwo in Feindesland verscharrt ist. Er stellt sich das kalte Grab vor, schaudert, obwohl er weiß, dass Ted nichts mehr fühlen kann.
Kate atmet tief ein, legt ihre Hände auf Roberts Brust. »Es ist vorbei. Wir haben Glück gehabt. Meine Eltern haben überlebt und alle meine Schwestern.«
»Wie viele hast du?«
»Sechs. Ich bin die älteste.« Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. »Und du? Hast du Geschwister?«
Robert lächelt schwach. Das wäre ein guter Moment, um zu weinen, aber die Trauer ist unter einem Berg von Zorn begraben. »Einen Bruder. Er ist in der Ukraine verschollen.«
Kate bedeckt sein Gesicht mit Küssen. »Das tut mir unendlich leid«, sagt sie immer wieder. »So unendlich.« Sie beginnt erneut zu weinen, wedelt mit einer Hand vor ihrem Gesicht herum, auf dem sich rote Flecken gebildet haben. »Entschuldige, dass ich einfach losflenne, aber ich kann nicht anders. Das ist so unendlich traurig.«
»Schon gut«, sagt Robert. »Du musst dich nicht entschuldigen. Es tut gut, wenn du weinst, ich kann es nicht.«
Eine Weile sitzen sie noch in Kates Küche, Robert könnte sich vorstellen, öfters hier zu frühstücken und Kate im Arm zu halten. Er hätte nicht gedacht, dass sich seine Gefühle so schnell ändern. Gestern noch wollte er nichts weiter mit einer Frau zu tun haben, was über eine gemeinsame Nacht hinausgeht, jetzt möchte er hierbleiben, bei Kate.
»Ich muss gehen«, flüstert er ihr ins Ohr. »Möchtest du mich wiedersehen?«
Sie wirft den Kopf nach hinten, lacht kurz. »Ja, gerne. Wo? Wann?«
Sie scheint überrascht, hat wohl damit gerechnet, dass sich Robert auf leisen Sohlen verabschiedet. Also ist sie vielleicht auch ein bisschen verliebt. »Am Sonntag. Wir gehen essen, danach ins Kino. Ich lade dich ein.«
Kate wird plötzlich ernst. »Bist du dir sicher?«
Robert versteht nicht, was sie meint. »Natürlich.« Er überlegt, ob sie vielleicht kein Kino mag. »Wir können auch in die Oper …«
Sie erstickt seine Worte mit ihren Lippen. »Kino ist wunderbar«, sagt sie durch die Zähne hindurch
»Ich hole dich ab. Um sechs am Abend?«
Sie müssen lachen. Wenn sie reden, die Lippen so aufeinandergedrückt, kribbelt es im ganzen Körper. Es ist wie Kitzeln von innen.
Kate strahlt über das ganze Gesicht. Zum Abschied küssen sie sich leidenschaftlich. Fast wird Robert schwach, der Duft der Nacht in ihren Haaren wirkt wie Opium. Aber er muss los, es ist schon spät, nach neun Uhr. Widerwillig macht er sich frei, noch ein Blick in ihre Augen, dann verlässt er ihre Wohnung und tritt auf die Straße. Vom Fenster aus winkt sie ihm zu, er winkt zurück, wendet sich ab, schneller, als er möchte.
Er schaut sich um und entdeckt einen Friseursalon. Fromm, gegenüber seiner Wohnung, wird auf ihn verzichten müssen. Er hat Zeit genug, und er wird nicht warten müssen. Außer ihm braucht anscheinend niemand einen Haarschnitt, aber er weiß, dass das nicht der einzige Grund ist. Viele können sich keinen leisten. Der Laden ist leer, bis auf einen schlanken jungen Mann, der auf einem der Friseurstühle sitzt und wehmütig dreinschaut, während er in einer Illustrierten blättert. Roberts Ansicht nach hat er zu viel Pomade in seinem Haar verteilt. Das scheint die neueste Mode zu sein, der letzte Chic vielleicht aus Italien. Robert öffnet die Tür, eine Klingel läutet, der junge Mann springt auf, jegliche Wehmut ist verflogen, er lächelt warm.
»Darf ich Ihren Mantel nehmen?«
»Sehr gerne«, antwortet Robert und reicht ihm den Mantel, unter dem Roberts Uniform sichtbar wird. Der junge Mann lässt sich nichts anmerken und hängt das Kleidungsstück sorgsam auf einen Bügel, streicht es glatt. Er zeigt auf den Friseurstuhl, auf dem er gerade gesessen hat.
»Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein?«
»Waschen und schneiden bitte. Kurz. Die Ohren frei, den Nacken frei.«
»Sehr wohl, der Herr.«
Robert nimmt Platz. »Da habe ich ja Glück, dass ich so schnell drankomme, Herr …«
»Nennen Sie mich Holger.«
»Gerne, Holger.«
Holger wartet einen Moment mit der Antwort, wahrscheinlich rechnet er damit, dass Robert ihm ebenfalls seinen Namen nennt. Er legt Robert den Friseurumhang an, damit die abgeschnittenen Haare nicht an seiner Uniform hängen bleiben.
»Die meiste Kundschaft kommt am Nachmittag, nach der Arbeit. Und natürlich am Samstag. Da kommen wir gar nicht hinterher. Dann ist auch mein Chef da und noch zwei Gesellen.«
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