»Was möchten Sie?«
»Eine heiße Schokolade bitte. Ganz dunkel.«
Er winkt einem Kellner, der sofort an ihren Tisch kommt, Auerbach gibt die Bestellung auf: eine Tasse Brühkaffee für sich, extrastark und schwarz, die heiße Schokolade für Anna, extradunkel.
»Wie geht es Ihnen?«, fragt Auerbach. »Hat Ihr Chef ein Einsehen gehabt?«
Annas Deckarbeitsplatz ist ein kleines Versicherungsbüro. Sie arbeitet dort als Sekretärin. Auerbach hat sie erzählt, dass ihr Chef sie auch samstags bis sieben Uhr arbeiten lässt. Auerbach hat schon zweimal angerufen, um sie zu sprechen. Sie ist sich sicher, dass er prüfen wollte, ob es dieses Büro überhaupt gibt. Er hat es sich von außen angesehen und sogar jemanden geschickt, der eine Versicherung abgeschlossen hat. Seitdem hat er mehr Vertrauen gefasst. Sie geht davon aus, dass er ihre Deckidentität geschluckt hat. Die Westpresse ist voll mit reißerischen Artikeln über Entführungen Unschuldiger. Alles gelogen. Anna weiß es. Sie hat schon viele Naziverbrecher und Landesverräter gefasst und ihrer gerechten Strafe zugeführt. Der Westen aber macht sich nach wie vor mit Nazi-Verbrechern gemein. Die Nürnberger Prozesse haben nur den Schaum der Nazijauche abgeschöpft.
»Ja. Ich muss jetzt nur noch bis fünf arbeiten. Eine große Verbesserung«, antwortet sie fröhlich.
Die Getränke kommen. Die Schokolade dampft, so heiß ist sie, der Kaffee ebenfalls. Das Kaffeehaus hat keine Heizung. Im hinteren Teil befindet sich ein Kaminofen, der aber nicht befeuert wird. Kohle ist teuer, Holz gibt es überhaupt nicht, die Gasleitung ist noch nicht repariert.
Anna kostet. Die heiße Schokolade ist dick und herb, schmeckt leicht bitter nach Kakao. So hat ihre Mutter sie früher gemacht, bevor die Nazis sie verschleppt haben. Da war Anna zehn Jahre alt. Nur ein Jahr später war ihr Vater weg. Ihr Großvater hat sie bei Nacht und Nebel nach Frankreich gebracht. In der Nähe von Bordeaux war eine Anlaufstelle für deutsche Kommunisten. Dann er ist ins Reich zurückgekehrt. Weder von ihrer Mutter noch von ihrem Vater oder ihrem Großvater hat sie je wieder gehört. Sie atmet tief durch, muss aufpassen, dass sie nicht wehleidig wird, das vernebelt die Sinne. Sie kann es sich nicht leisten, unaufmerksam zu sein.
Auerbach nippt an seinem Kaffee, schaut sie über den Tassenrand hinweg an. »Am Sonntag, äh«, er errötet, »hätten Sie Lust, mit mir und Freunden einen Ausflug zu machen?«
Anna setzt ein erfreutes Gesicht auf, sie weiß, dass es echt wirkt. Vor dem Krieg hat sie Schauspiel studiert. »Aber ja. Gerne. Wohin soll es denn gehen?«
»Ich habe Ihnen doch von Norbert erzählt. Er hat ein Segelboot, wir machen eine kleine Tour über die Spree, vorausgesetzt, das Wetter hält.«
Anna greift nach Auerbachs rechter Hand, drückt sie, er erwidert die Berührung leicht. Auch seine Hände sind trocken. Er ist vollkommen entspannt. Wieder steigt leichte Übelkeit auf. »Das wäre wunderbar! Und schlechtes Wetter macht mir nichts aus. Mein Mantel ist wasserdicht.«
Auerbach lächelt milde. »Der würde nicht viel nutzen auf dem Wasser. Aber es ist gut, wenn Sie wetterfest sind. Die nötigen Kleider habe ich noch von meiner Frau. Die müssten Ihnen passen.«
Anna ist überrascht. Er hat noch nie von seiner Frau erzählt. »Ihre Frau …«
»Sie ist tot. Bombennacht. Ich war freiwilliger Helfer bei der Feuerwehr. Die Bombe hat den Keller getroffen. Niemand hat überlebt.«
Anna drückt seine Hand fester. »Es sind so viele ums Leben gekommen.«
Er lächelt noch immer. »Aber jetzt ist es ja vorbei, und das Leben geht weiter.«
Auerbach ist ein guter Lügner. Er war nie bei der freiwilligen Feuerwehr. Und er war auch nie verheiratet. Er hat in den letzten Tagen des Krieges Hunderte Kinder in den Tod geschickt und Dutzende Männer erschießen lassen, die sich geweigert hatten, als Kanonenfutter zu sterben. Bevor ihn die Russen schnappen konnten, ist er geflohen und hat sich den Amerikanern ergeben.
»Wie furchtbar«, haucht Anna.
»Ja, aber wir hatten eine wunderbare Zeit miteinander. Das macht es leichter.«
Anna seufzt tief. »Ich bewundere Sie, dass Sie nicht verbittert sind.«
Auerbach legt seine andere Hand auf ihre. »Wir müssen vergeben, so wie uns vergeben wird. Ist es nicht so«?
»Ja, so ist es. Nur so kann wirklicher Friede einkehren.«
Auerbach nickt wissend, er erhebt sich. »Entschuldigen Sie mich einen Moment. Der Kaffee …«
Beide lachen. Er hat eine schwache Blase, auch das weiß Anna. Sie schaut Auerbach nach, er muss aus dem Café raus und über den Hof gehen, wo die Toiletten untergebracht sind. Ihr bleibt genug Zeit. Noch einmal überzeugt sie sich, dass er das Kaffeehaus verlassen hat. Noch einmal schaut sie sich die anderen Gäste an. Wenn ein Agent darunter ist, wenn es eine Falle ist, hat sie bereits verloren. Sie verdeckt das Fläschchen mit der einen Hand so, dass es niemand sehen kann, und beugt sich über den Tisch. Es sieht aus, als wolle sie das Zuckerdöschen nehmen. Die K.-o.-Tropfen plätschern in den Kaffee. Der ist so bitter, dass Auerbach nichts schmecken wird. Sie lässt das Fläschchen verschwinden, nimmt einen Löffel Zucker und gibt ihn in den Kakao. Die Wolkendecke bricht auf, die Sonne kommt heraus. Besser kann es nicht werden.
Auerbach kehrt zurück, setzt sich, nimmt einen Schluck Kaffee. Anna schaut aus dem Fenster, dann in Auerbachs Gesicht. Sie weiß, wie man ohne Worte eine Verheißung ausdrückt. »Wie wäre es mit einem Spaziergang?«
Auerbachs Augenlider zucken einmal. Jetzt laufen Bilder in seinem Kopf ab, jetzt stellt er sich vor, was auf einem Spaziergang im Frühling und auf einem Trümmergrundstück so alles passieren kann. Er hat schon länger keine Frau mehr gehabt. Zu Prostituierten geht er nicht. »Das ist unter meiner Würde«, hat er zu einem Freund gesagt. Unsere Spitzel leisten gute Arbeit, denkt Anna. Vor allem die, die aus Überzeugung handeln, die ein Gewissen haben.
»Gerne.« Er ordert die Rechnung, bezahlt, gibt reichlich Trinkgeld, hilft Anna in den Mantel, für den Bruchteil einer Sekunde taxiert er ihre Figur, Anna sieht, wie seine Augen an ihrem Körper hinauf- und hinuntereilen. Er hat einen Blick für die Formen einer Frau, auch durch unscheinbare Bekleidung hindurch. Für einen winzigen Moment bleiben seine Augen auf ihren Brüsten haften. Sie hat ihn an der Angel.
Sie verlassen das Kaffeehaus, Anna hakt sich ein, lässt ihre linke Hand in Auerbachs rechte gleiten, sie dirigiert ihn mit kaum merklichen Bewegungen, drückt immer wieder ihre Hüfte gegen seine, wenn er einen Scherz macht. Er hat Sinn für Humor, ist bei seinen Bekannten und Freunden beliebt, er ist großzügig, hilfsbereit. Alle werden sagen: »Das hätte ich nie gedacht, dass dieser nette Mann so ein Ungeheuer war.«
Schweigen kehrt ein, sie verstehen sich auch ohne Worte. Jede Bewegung, jeder Blick drückt aus, worauf es heute hinauslaufen soll: eine schnelle Nummer, heimlich in einem Keller oder zwischen eingestürzten Mauern. Anna unterdrückt den Impuls, auf die Uhr zu sehen. Sie muss die Zeit schätzen. Zehn Minuten sind vergangen, seit sie das Kaffeehaus verlassen haben, vielleicht fünfzehn. Es wird Zeit. Sie biegt rechts ab, die Straße ist zwar geräumt, aber rechts und links türmen sich Schuttberge, Wege sind zu den Grundstücken angelegt, Schilder warnen vor Einsturzgefahr: »Betreten verboten!«. Viele Tote hat es dieses Jahr gegeben, erschlagen von plötzlich herabstürzenden Mauern. Aber Herta Müller kennt sich aus. Die ganze Stadt ist bis ins Detail kartografiert, ständig werden die Informationen von den »Ameisen« des Ministeriums für Staatssicherheit aktualisiert. Noch hundert Meter bis zum Ziel.
Auerbach bleibt stehen, schaut sich kurz um, zieht Anna an sich, sein Glied drückt durch Hose und Mantel hart an ihren Oberschenkel. Seine Zunge drängt in ihren Mund, sie öffnet ihn leicht, gierig leckt er über ihre Zähne, eine Hand gleitet unter ihren Rock, die andere öffnet zwei Mantelknöpfe und zupft dann an ihrer Bluse. Sie drückt sich von ihm weg, schluckt Magensäure hinunter. Hätte er Mundgeruch, könnte sie sich nicht beherrschen und müsste sich übergeben. Sie ist nur Lockvogel und keine weibliche Romeo-Falle.
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